Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

50 Jahre Kindernothilfe in Äthiopien: Mit Bildung für Kinder und Frauenpower in die Zukunft

Text: Ann-Cathrin Coenen, Fotos: Jakob Studnar

Vor 50 Jahren baten die beiden großen Kirchen Äthiopiens die Kindernothilfe dringend um Hilfe: Das Land im Osten Afrikas kämpfte mit einer schweren Hungersnot, rund 200.000 Menschen starben. Viel hat sich seitdem verändert. Einerseits sind Hungerkatastrophen und Dürren bis heute ein Problem, andererseits hat das Land einen enormen wirtschaftlichen Sprung machen können. Mit unserer Äthiopien-Expertin Edith Gießler sowie einem ehemaligen Patenkind, das heute Geschäftsführer einer unserer Partnerorganisationen ist, haben wir über die Veränderungen der vergangenen 50 Jahre und die aktuellen Herausforderungen in Äthiopien gesprochen.

Es war 1972, als uns die Mekane Yesus Kirche und die Orthodoxe Kirche Äthiopiens um Unterstützung baten. Das Land litt unter einer Hungersnot und den Folgen des Bürgerkrieges gegen die sozialistische Regierung. Viele Kinder waren durch Hunger oder Krieg zu Waisen geworden und benötigten dringend Hilfe. Der damalige Kindernothilfe-Auslandsvorstand Lüder Lüers und Pfarrer Ernst Schmitt aus der Heimatgemeinde der Kindernothilfe reisten auf Einladung des Bischofs von Tigray nach Äthiopien, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Eindrücke der Reise würden „sie in ihrem Leben nie wieder vergessen können“, so Lüers später in einem Interview im Jahr 1997. Schließlich weitete die Kindernothilfe ab 1973 ihr Patenschaftsprogramm auf Äthiopien aus.

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Hungersnot in Äthiopien (Quelle: Dieter Kohl)
Kinder während einer Hungersnot in Äthiopien (Quelle: Dieter Kohl)
Hungersnot in Äthiopien (Quelle: Dieter Kohl)
Kinder während einer Hungersnot in Äthiopien (Quelle: Dieter Kohl)

„Wir waren wie Brüder und Schwestern im Projekt“

Etwa zu dieser Zeit wurde auch Haftu Woldu in das Programm aufgenommen. Der damals Elfjährige hatte gerade seine Mutter verloren, und sein Vater konnte die Kosten für den Schulbesuch nicht tragen. Mit Beginn der Patenschaft musste er ins entfernte Mekelle ziehen, wo er in einem Schülerwohnheim untergebracht wurde. In vielen Dörfern gab es keine Schulen, nur in den Städten. Da die Jugendlichen dort nicht alleine wohnen konnten, unterstützte die Kindernothilfe die Gründung von Wohnheimen als vorübergehendes Zuhause während der Schulzeit „Es war ein Schock, als wir erfuhren, wie weit weg ich von der Familie sein würde. Aber ich ging und begann die neue Reise meines Lebens“, erinnert sich Haftu Woldu. Was dort alles für ihn neu war? So vieles, beschreibt der 60-Jährige. Er habe vorher noch nie eine asphaltierte Straße gesehen, genauso wenig wie Elektrizität und ein voll ausgestattetes Badezimmer. Später lernte er auch seine Patin aus Deutschland kennen, und ein regelmäßiger Briefkontakt entwickelte sich.

Heute denkt Haftu Woldu gerne an seine Schulzeit zurück. „Wir waren wie Brüder und Schwestern, und unsere Kindheit im Schülerwohnheim war wirklich sehr fröhlich.“ Er absolvierte die Grund- sowie die weiterführende Schule in Mekelle und begann nach dem Abschluss sein Studium an der Addis Ababa University Alemaya sowie an der Agricultural University of Norway.

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Ehemaliges Patenkind Haftu Woldu aus Äthiopien - mit Vater und einem Jungen aus dem Projekt (Quelle: privat)
Haftu Waldu (l.) mit seinem Vater und einem Jungen aus dem Projekt (Quelle: privat)
Ehemaliges Patenkind Haftu Woldu aus Äthiopien - mit Vater und einem Jungen aus dem Projekt (Quelle: privat)
Haftu Waldu (l.) mit seinem Vater und einem Jungen aus dem Projekt (Quelle: privat)

Drei Hungersnöte in 15 Jahren

Ein Jahrzehnt später, Mitte der 1980er Jahre, kämpfte Äthiopien wieder mit einer Hungersnot, die Kindernothilfe leiste erneut humanitäre Unterstützung. Bei Dreharbeiten vor Ort mit ZDF-Moderatorin Elfi van Kalckreuth entdeckte man rein zufällig rund 2.000 vergessene Waisenkinder, traumatisiert, mit versteinerten Gesichtern. Sie waren in Zelten untergebracht, die Hilfsorganisationen nach ihrem Einsatz zurückgelassen hatten – ein erschreckender Anblick. 1.200 Mädchen und Jungen brachte man in Projekten der Kindernothilfe unter; mehr als 1.000 Menschen folgten einem Aufruf im ZDF-Auslandsjournal und übernahmen Patenschaften für sie. Die übrigen Kinder nahm eine andere Organisation vor Ort auf. Als 1990 die dritte Hungersnot innerhalb von 15 Jahren die Bevölkerung erschütterte, unterstützen die Spenderinnen und Spender der Kindernothilfe die Soforthilfe mit mehr als drei Millionen Deutscher Mark.
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Dürre und Hunger sind bis heute ein Problem

Seitdem hat sich einiges verändert: „Äthiopien hat einen sehr schnellen wirtschaftlichen Wandel erlebt. Es gab enorme infrastrukturelle Entwicklungen, und es wurden zahlreiche Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Universitäten gebaut“, resümiert Haftu Woldu. Trockenheit und Hungersnöte machen der Bevölkerung allerdings noch immer zu schaffen. „Aktuell kämpfen wir mit einer Dürre, nachdem fünf Regenzeiten in Folge ausgeblieben sind. Der Süden und der Osten Äthiopiens sind ganz schlimm betroffen“, erklärt Edith Gießler, die seit 1991 Programm-Koordinatorin für Äthiopien bei der Kindernothilfe ist. „Wir verteilen Lebensmittelpakete an die Not leidende Bevölkerung und Zusatznahrung für Kleinkinder Kleinkinder, Schwangere und Stillende. Heute wird auch die Katastrophenvorsorge mitgedacht, damit die Gemeinden in Zukunft besser gewappnet sind.“ Ein weiterer Unterschied: Der Kinderschutz spielt in allen Bereichen eine große Rolle. „Während Krisen sind Kinder besonders verletzlich und gefährdet“, so Gießler. „Häufig richten wir spezielle Kinderzentren ein, wo die Mädchen und Jungen zumindest stundenweise ein kindgerechtes Leben führen können.“
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Viele neue Chancen für Äthiopien

Im Gegensatz zu früher werden die Kinder nicht mehr in Wohnheimen untergebracht, sondern im Familienverband gefördert. Dazu gehört auch, dass die Mütter Unterstützung bekommen. „Mit unseren Selbsthilfegruppen befähigen wir Frauen, sich aus eigener Kraft wirtschaftlich zu etablieren und so auch ihre Kinder gut versorgen zu können“, erklärt Edith Gießler. Die Frauen tauschen sich aus und sparen gemeinsam, um Mitgliedern Kredite für die Umsetzung ihrer Geschäftsideen zu geben. Dorfgemeinschaften werden außerdem dabei unterstützt, die eigene Entwicklung sowie die Förderung der Kinder selbst in die Hand zu nehmen. Leitfaden hierfür ist die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. „Zurzeit gibt es in Äthiopien 15.171 dieser Selbsthilfegruppen mit 276.512 Frauen“, zählt Edith Gießler stolz auf, „und von deren Arbeit profitieren fast 600.000 Kinder!“
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Haftu Woldu, heute Geschäftsführer der Kinder- und Familienorganisation der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahido-Kirche mit 277 Mitarbeitenden, die ebenfalls Partner der Kindernothilfe ist, blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. Es gäbe viele gut ausgebildete junge Leute im Land, Informationen seien einfach zugänglich und die Unterstützung von außen sei groß. „Wir haben noch immens viele ungenutzte natürliche Ressourcen, Menschen mit großartigen Fähigkeiten und neue Chancen für Äthiopien.“
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