Wer sein Kind nicht zur Schule schickt, bekommt Ärger mit dem Kinderrechtsrat
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch
Im Norden Malawis, nahe der Stadt Karonga, schließen sich Mädchen und Jungen zu sogenannten Kinderrechtsräten zusammen. Gemeinsam mit Kindernothilfe-Partner und Gemeinderat setzen sie in ihren Dörfern das Recht auf Bildung durch. Wer sich weigert, sein Kind zur Schule zu schicken, muss zahlen. Und Minderjährige, die ins Ausland verkauft wurden, werden zurückgeholt.
Das alte Schulgebäude hat schon bessere Tage gesehen. Im Boden sind Löcher, der Putz bröckelt von der Wand und die Bänke sind wackelig. Doch das ist den Mitgliedern des Jugendrats egal. Es gibt Wichtigeres. Nämlich die Frage, ob eines der Kinder aus dem Dorf verschwunden ist. „Wenn wir bemerken, dass ein Kind nicht mehr zur Schule kommt, finden wir erst einmal heraus, warum“, erklärt David. „Wir gehen zu ihm nach Hause und fragen, warum es fehlt. Manchmal ist es einfach nur für ein paar Tage krank. Aber meistens steckt etwas anderes dahinter.“
"Wir wollen was verändern"
David (15) ist der Vorsitzende des Kinderrechtsrats von Mwangwera, einem kleinen Ort im Distrikt Karonga im Norden Malawis. Dieser und elf weitere Jugendclubs wurden vom Kindernothilfepartner Future Planning for the Child (FPC) initiiert. Jedes Kind, das in einem der beteiligten Dörfer geboren wird, wird automatisch Mitglied im jeweiligen Club. Geleitet werden sie von einem Kinderrechtsrat, einer Gruppe engagierter Kinder und Jugendliche, die bereit sind, eine Führungsrolle zu übernehmen.
Damit sie die richtig ausfüllen können, leitet Alex Mwangosi von FPC die Gruppentreffen und vermittelt wichtige Kenntnisse. Er findet immer genügend Jugendliche, die sich einsetzen. „Das Gefühl, dass sich etwas ändern muss, ist unter den jungen Menschen in den Dörfern sehr stark“, hat der Mitarbeiter von FPC beobachtet. „Mit den Kinderrechtsräten helfen wir den Mädchen und Jungen, sich zu organisieren und selbst für ihre und die Rechte ihrer Mitschüler einzutreten.“
David und die übrigen Ratsmitglieder treffen sich jeden Samstag. Der Jüngste ist gerade einmal acht Jahre alt, die Älteste 16. Warum opfern sie jede Woche einen freien Tag? „Wir wollen etwas verändern. In Zukunft soll jedes Kind im Dorf eine Schulbildung haben“, erklärt David, „denn sie ist das wichtigste Kinderrecht, das es gibt.“
Wer sein Kind nicht zur Schule schickt, muss Strafe zahlen
Es gibt viele Gründe, aus denen Mädchen und Jungen nicht mehr zur Schule kommen. Vor allem die Jungen werden schon früh von den Vätern zum Fischen mit hinaus auf den Malawisee genommen. Während der Pflanz- und Erntezeit fehlen besonders viele Kinder, sie werden von ihren Eltern als Tagelöhner für die Feldarbeit an Nachbarn „ausgeliehen“. Dann haben die Jugendräte besonders viel zu tun. „Wir besuchen die Familien und erklären den Eltern, dass Kinder ein Recht darauf haben, zur Schule zu gehen“, erläutert die 15-jährige Ngasimenye ihre Aufgabe. „Im Zweifel drohen wir ihnen damit, uns an den Gemeinderat zu wenden.“
Einige Arbeiten, die früher üblich waren, kommen kaum noch vor. Zum Beispiel mussten Kinder zwischen neun und 15 Jahren früher täglich etwa 15 Kilometer bergauf laufen, um Feuerholz zu suchen und die viel zu schweren Holzbündel nach Hause zu schleppen. Sie standen um zwei Uhr nachts auf und kamen mit leerem Magen völlig erschöpft gegen 15 oder 16 Uhr zurück. Dank der Kinderrechtsräte wurde diese Tradition fast ausgemerzt.
Es waren die Kinderrechtsräte, die die Idee hatten, Regelungen zu Schulbesuch und Kinderarbeit in die Gemeinde-Statuten aufzunehmen. Sie haben sie formuliert, dazu beigetragen, dass sie in der Gemeinde verabschiedet wurden, und sie setzen sie jetzt auch durch. Nur dank ihrer Initiative gibt es z. B. die Strafzahlungen für Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Die jungen Leute sind ein großartiges Beispiel dafür, wie Mädchen und Jungen befähigt werden, ihre Rechte einzufordern und durchzusetzen.
Der Kinderrechtsrat holte Miness aus Tansania zurück
So war es auch bei Miness. Sie war 13 Jahre alt, als sie zum Arbeiten ins Nachbarland geschickt wurde. „Als ich am Brunnen Wasser holte, sprach mich eine Frau an, sie sagte, sie hätte einen guten Job für mich, leichte Haushaltsarbeit und einen guten Lohn. Da könne ich eine Weile arbeiten und Geld verdienen, mit dem ich dann meine Schulsachen bezahlen kann“, erzählt sie. Die Schlepperin gab den Eltern einen Vorschuss auf den Lohn und brachte Miness über die Grenze. Als sie nicht mehr zur Schule kam, war einem Mitglied des Kinderrechtsrats gleich klar, was passiert sein musste – Justina war gemeinsam mit Miness am Brunnen gewesen und ebenfalls angesprochen worden. „Ich alarmierte die Gruppe. Gemeinsam gingen wir zu den Eltern und fragten, wo Miness ist“, erinnert sich die 16-Jährige. „Wir gaben ihnen zwei Tage, um Miness zurückzuholen, sonst würden wir die Polizei informieren.“
„Sie ist eine böse Frau“, ist alles, was Miness über sie sagen will. Sie spricht nicht gerne über ihre Zeit in Tansania. Dort hatte sie nicht wie versprochen leichte Hausarbeit zu erledigen, sondern musste sich rund um die Uhr um eine bettlägerige alte Frau kümmern. Es hätte noch schlimmer kommen können – nicht selten werden die Mädchen in die Prostitution gezwungen. Miness ist es peinlich, dass sie dem Kinderrechtsrat so viel Stress und Arbeit verursacht hat. „Aber ich bin sehr froh, dass es ihn gibt“, sagt sie so leise, dass es kaum zu hören ist. „Ohne die Gruppe wäre ich noch in Tansania.“ Ein Gutes hatte die Sache immerhin: Der Rat erfuhr, dass Miness Geld für Schulsachen braucht und unterstützt sie nun aus dem Fonds. „Außerdem haben wir mit der Schule gesprochen, damit sie sie wieder aufnehmen“, erzählt Justina. Miness kann ihren Traum, Lehrerin zu werden, wieder weiterverfolgen und ist bereits jetzt zur Botschafterin für Bildung geworden. „Ich erzähle allen Kindern in der Schule, dass sie keinen Versprechungen glauben und nicht nach Tansania, sondern unbedingt weiter zur Schule gehen sollen.“
Die Zahl der verschleppten Kinder und Frühehen ist gesunken
Die Geschichte von Miness ist kein Einzelfall. In einem einzigen Jahr holten die Jugendräte 43 Kinder aus Tansania zurück, sorgten bei 40 weiteren Mädchen und Jungen dafür, dass sie wieder zur Schule kommen und bewirkten die Auflösung von fünf Frühehen. „Das Schlüsselproblem ist die Armut“, erläutert Alex Mwangosi diese erschreckenden Zahlen. „Die meisten Menschen in der Region leben ausschließlich von dem, was ihre viel zu kleinen Felder hergeben. Sie haben weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung und liegen damit deutlich unterhalb der Armutsgrenze. Damit sie etwas zum Familieneinkommen beitragen, schicken sie ihre Kinder lieber zum Arbeiten als in die Schule.“
„Es ist höchste Zeit, den Armutskreislauf zu durchbrechen“
Viele Erwachsene sind nicht besonders glücklich über das Engagement des Rates. Dass da plötzlich junge Menschen kritische Fragen stellen, mit der Polizei drohen und mit diesem als respektlos empfundenen Verhalten auch noch Erfolg haben, ist für jemanden, der in einer traditionellen, hierarchisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen ist, schwer zu verkraften. Den Zusammenhang zwischen fehlender Bildung und Armut zu verstehen und die Veränderung zu akzeptieren, ist ein Lernprozess. Deshalb gibt es parallel zu den Jugendclubs auch regelmäßig Versammlungen für Erwachsene, in denen sie über Kinderrechte und ihre Bedeutung für die Gesellschaft aufgeklärt werden.
Jugendclubs auch regelmäßig Versammlungen für Erwachsene, in denen sie über Kinderrechte und ihre Bedeutung für die Gesellschaft aufgeklärt werden.
Doch vor allem müssen die Jugendlichen bei ihren Einsätzen Erwachsenen gegenüber die richtigen Argumente finden und Überzeugungsarbeit leisten können. In ihren wöchentlichen Sitzungen trainieren sie deshalb mit Alex Mwangosi, wie man das macht. Gerade stehen sie sich in einem Rollenspiel gegenüber. Mit fester Stimme zitiert Justina die Passage zum Recht auf Bildung. Sie hat auch gelernt, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, und hat keine Angst mehr davor, Autoritäten anzusprechen. „Am Anfang hat mich das viel Überwindung gekostet. Aber wenn wir nicht mithelfen, dass alle Kinder zu Schule gehen, wird es nicht gelingen, die Armut zu bekämpfen. Und dann wird auch die nächste Generation wieder ihre Töchter und Söhne zum Arbeiten ins Ausland schicken. Es ist höchste Zeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen.“