Eine Familiengeschichte im Schuhkarton
Text und Fotos: Anne Becker
In Südafrika wachsen 2,8 Millionen Kinder als Waisen oder Halbwaisen auf. Häufig können sich die Mädchen und Jungen kaum an die Verstorbenen erinnern, weil sie bei deren Tod zu klein waren. Wenn sie bei Verwandten aufwachsen dürfen, stürzt der Familienzuwachs den Haushalt oft in wirtschaftliche Not, die durch Corona noch verstärkt wird. Der Kindernothilfepartner Thandanani unterstützt Familien mit praktischen Hilfen. Eine „Memory Box“ hilft Kindern, Erinnerungen an die Verstorbenen am Leben zu halten.
Mduduzi Zuma trägt einen schweren, grauen Rucksack auf dem Rücken. Zielstrebig läuft der Sozialarbeiter über den sandigen Weg zwischen den einfachen Häusern in Dambuza, einem Vorort von Pietermaritzburg. Vor einem einfachen Lehmhaus bleibt er stehen und lächelt.
„Das ist wirklich schön zu sehen“, sagt der 31-Jährige. Vor dem Haus ist eine Gruppe von Kindern in ein Kästchen-Hüpfspiel vertieft. Sie lachen und klatschen. Soeben hat die 14-jährige Zandile ihren gleichaltrigen Cousin Bandile überholt. Es ist offensichtlich ein Riesending. Der Jubel ist groß. Den Besucher bemerken sie gar nicht.
„Dies war ein Haus der Trauer. Aber wir haben gemeinsam viel erreicht. Diese Kinder sind so stark!“, sagt Mduduzi Zuma, bevor er „hallo“ ruft. Sie begrüßen ihn und gehen gemeinsam in das einfache Haus, in dem Familie Mkhize wohnt. Zwei Frauen, Oma Nonhlanhla und ihre 32-jährige Tochter Anele, teilen sich hier mit acht Kindern und Enkeln ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Ein Bad gibt es nicht, nur einen rudimentären Holzverschlag mit Plumpsklo hinter dem Haus.
Mduduzi Zuma stellt den grauen Rucksack im Wohnzimmer ab. Der Sozialarbeiter der Organisation Tandanani, Partner der Kindernothilfe, begleitet die Familie seit drei Jahren. „Mduduzi gehört quasi zur Familie“, sagt Anele. „Er ist eine sanfte Seele und hat uns viel geholfen. Er bringt uns immer zum Lachen, auch wenn's gerade richtig schlecht läuft.“
In vielen Familien sind Frauen die Oberhäupter
Besonders Teenager Bandile liegt dem Sozialarbeiter am Herzen. Der hat das verlorene Hüpfspiel längst vergessen, sitzt jetzt in Eintracht mit seiner Cousine Zandile auf der Couch. Die beiden verstehen sich gut, gehen in dieselbe Schule, leben seit ihrer Geburt in einem Haushalt. Ihre Mütter waren Schwestern. Wie so oft in Südafrika wird auch die Mkhize-Familie von Frauen geführt. Oma Nonhlanhla ist die „Chefin“. Vor drei Jahren starb ihre Tochter Ayanda, Bandiles Mutter. „Ich habe sie sehr lieb gehabt“, sagt der Junge in einem ruhigen Moment. „Es hat wehgetan, sie zu verlieren. Ich bin viel spazieren gegangen allein, um meine Wut loszuwerden.“
Bandile ist ein aufgeschlossener Junge, gut in der Schule. Doch man merkt, wie schwer es ihm fällt, über den Tod seiner Mutter zu sprechen. „Es ist gut, dass ich meine Tante noch habe.“ Für Anele Mkhize ist Bandile wie ein Sohn. Selbstverständlich leben er und seine zehnjährige Schwester weiterhin mit ihren sechs eigenen Kindern gemeinsam in Oma Nonhlanhlas Lehmhaus.
Zandile sorgt sich jedoch. „Es war schwierig, als meine Tante starb", sagt sie. Sie sitzt seitwärts auf einer großen Trommel hinter dem Haus, rollt sie nervös vor und zurück. “Bandiles Mutter arbeitete in einem Friseursalon und verdiente Geld für uns alle, damit wir etwas zu essen haben.“
Als die Mutter starb, verlor die Familie einen Großteil ihres Einkommens. Alle Hoffnung und Last liegt nun auf Anele. Doch sie ist seit anderthalb Jahren arbeitslos. Ihre Ausbildung zur Näherin wurde wegen der Corona Pandemie eingestellt. Damit bleibt der Familie nur das Kindergeld. 3.440 südafrikanische Rand pro Monat, 200 Euro, für zehn Personen. „Das ist einfach nicht genug, um Essen und Kleidung für die Kinder zu kaufen“, sagt Anele. „Am 23. jeden Monats haben wir meist kein Essen mehr im Haus.“
Gemüseanbau schont die Haushaltskasse
Dann kommt Mduduzi Zuma meist vorbei und bringt Lebensmittelgutscheine mit, die Anele im lokalen Supermarkt einlösen kann. „Ohne diese Hilfe würden wir nicht über die Runden kommen“, sagt sie. Auf lange Sicht ist das keine Lösung. Deshalb haben Mduduzi und seine Kollegen auf der Wiese neben dem Haus gemeinsam mit Oma und Enkel einen Gemüsegarten angelegt, gut umzäunt und mit gesunden Setzlingen. „Das da sind Tomaten, dort wächst Kohl und hier ist die rote Beete“, erklärt Bandile stolz. Er ist für das Wässern des Gartens verantwortlich. „Es ist eine gute, wichtige Arbeit, denn wir können so Geld sparen. Wir müssen den Kohl ja nicht mehr im Supermarkt kaufen.“ Einmal hat die Familie schon geerntet. Seitdem haben Bandile und seine Oma neue Pflanzen angebaut.
Gärten dieser Art wurden inzwischen bei über 400 Familien in der Region angelegt. „Wir unterstützen Familien für drei Jahre. Das Ziel ist, ihnen zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen“, sagt Mduduzi. „Die Gärten spielen eine große Rolle.“ Wie seine Oma hofft auch Bandile, irgendwann einen Teil der Ernte verkaufen zu können, um Geld für die Familie zu verdienen. Denn ein regelmäßiges Einkommen ist es, was die Familie wirklich braucht. Jobs sind extrem rar.
Die Arbeitslosenrate in Südafrika hat während der Corona-Pandemie mit 32,5 Prozent Rekordhöhe erreicht. Umso wichtiger sind staatliche Hilfen. „Die zu beantragen, ist eine richtige Mission“, sagt Anele Mkhize. Besonders jetzt, wo wegen der Pandemie viele Ämter geschlossen oder nur mit reduzierter Zahl von Beamten arbeiten. Tandanani hilft der Familie bei den Anträgen. Oma Nonhlanhla hat zum Beispiel Anrecht auf monatlich 2.100 Rand (122 Euro) Waisenrente für Bandile und seine Schwester. Wird sie genehmigt, würden die monatlichen Sozialleistungen für die Familie um 40 Prozent steigen. „Mduduzi hat uns sehr geholfen”, sagt Anele. “Er ist mit Oma zum Gericht gefahren, hat alle notwenigen Papiere beantragt, sie offiziell beglaubigen lassen. Am Mittwoch wird der Antrag auf Waisenrente offiziell eingereicht.”
HIV-Test im Wohnzimmer
Heute hat Mduduzi Zuma jedoch den großen grauen Rucksack mitgebracht. Darin ist alles, was man braucht, um Omas Blutdruck zu checken, bei den Kids Fieber zu messen, selbst ein HIV-Schnelltest kann vor Ort durchgeführt werden. „Die Idee ist“, so Mduduzi, „dass wir der Familie auch bei gesundheitlichen Problemen früh genug helfen können.“ Denn über Krankheit wird in der hiesigen Gesellschaft generell wenig gesprochen.
„Ich weiß nicht, woran meine Tante gestorben ist“, sagt Zandile. „Meine Mutter hat mir nur gesagt, dass sie krank war.“ Auch Bandile weiß nicht, woran seine Mutter starb. „Sie hatte Kopfschmerzen“, sagt die Oma. Sie ist erst 58, aber so in ihrem großen, abgewetzten Sessel im Wohnzimmer tief versunken, sieht sie wesentlich älter aus. „Wir haben keine großen emotionalen Probleme“, sagt sie und versucht, ihre Tränen zu unterdrücken. „Nur Bandile hört nicht auf zu fragen. Er will wissen, woran seine Mutter gestorben ist und warum so früh.“ Es klingt fast verärgert. “Wir sagen ihm: Ihre Zeit war gekommen. Wir müssen das akzeptieren.“
Ein Karton voller Erinnerungen
Bei seinen Besuchen bietet Mduduzi Zuma der Familie einen Weg der Trauerbewältigung an, der Bandile etwas mehr Informationen über seine Mutter zugänglich macht. In einem von den Kindern liebevoll bemalten Schuhkarton haben Anele Mkhize und Oma Nonhlanhla Fotos der verstorbenen Tochter, Schwester und Mutter gesammelt. Eine sogenannte Memory Box. Darin ist auch ein von Anele angefertigter Stammbaum der Familie. Heute zeigt sie ihn den Kindern. „Da, das ist Oma, und sie war mit Opa verheiratet – meinem Vater. Aber er ist früh gestorben.“ Die Kinder hören aufmerksam zu. Sie wollen mehr über diesen Mann wissen, den sie nie kennengelernt haben. Mduduzi Zuma sitzt inmitten der Familie. Nur selten schaltet er sich ein. Es ist ein besonderer Moment, in dem die Familie Mkhize sich selbst erkundet – die vielen schönen Erinnerungen und die Trauer. Und sie sprechen auch über Bandiles Mutter. Zum ersten Mal fällt das Wort Tuberkulose.
Fotos der verstorbenen Mutter werden herumgereicht, und Anele erzählt bisher Unbekanntes. „Sie hat Schweinefleisch geliebt“, sagt sie über ihre verstorbene Schwester. „Keiner in dieser Familie hat je Schweinefleisch gegessen, wir wussten gar nicht, dass es so etwas gibt. Ayanda hat es mitgebracht. Oh, sie hat es geliebt.“ Bandile hört aufmerksam zu, richtet sich jetzt rasch auf und ruft in die Runde: „Und Fleischpastete. Die hat Mama auch geliebt.“ Alle lachen.
„Es sind Jahre seit dem Tod meiner Schwester vergangen“, sagt Anele Mkhize. „Wir haben noch nie so einen Moment erlebt. Es tut gut.“ „Ich wünschte, meine Mutter könnte sehen, wie gut es uns geht“, sagt Bandile. „Und wie viel wir erreichen. In der Schule und hier zu Hause.“ Er lächelt. In sich hinein. Und Mduduzi Zuma tut es ihm gleich. Dann nimmt der Sozialarbeiter seinen schweren, grauen Rucksack, verabschiedet sich und läuft zielstrebig den sandigen Weg zwischen den einfachen Häusern in Dambuza entlang. Morgen besucht er eine andere Familie.