Indonesien: 12 Stunden in Jakarta
Text: Kornelia Olivier, Fotos: Jonas Hieronimus, Christian Nusch, Kornelia Olivier
In der Millionenmetropole Jakarta leben mehr als 11.000 Kinder auf der Straße. Unsere Partnerorganisation Kampus Diakoneia Modern (KDM) gibt diesen Kindern Hoffnung und konkrete Hilfe, einigen von ihnen sogar eine Heimat. Nachdenklich stimmende Geschichten aus dem kinderreichsten Land der Welt.
Bintara, West Bekasi, 11 Uhr
So weit das Auge blickt, scheint hier alles aus Abfall zu bestehen. Sogar der Boden, auf dem wir stehen, sei aus Abfall, wird uns erzählt. Das spürt man – er gibt tatsächlich nach, wenn man auftritt. Wir laufen über Plastiktüten, Rucksäcke, zerrissene Kleidungsstücke europäischer Marken und zertretene Cola-Dosen. Geschätzte 750 Familien leben und arbeiten hier im Müll. Jeden Tag durchsuchen sie den Abfall nach Gegenständen und Materialien, die sich weiterverkaufen lassen. Auch Ismail gehört zu ihnen. Er ist zwar erst 13, aber hilft seinem Vater mehrmals in der Woche bei dessen Arbeit als Müllsammler.
Wir treffen ihn und seine Mutter in ihrem Haus in Bintara. „In einer guten Woche verdienen wir höchstens 70 Euro“, erzählt sie. „Das genügt nicht immer zum Leben, aber ich versuche, dann gut hauszuhalten!“ Dabei hilft ihr auch die Gemeinschaft im Elternforum – eine Initiative, die sich in Bintara trifft und Unterstützung bei der Erziehung und im Haushalt bietet. Der Kindernothilfepartner KDM arbeitet mit ihr zusammen. „Das Leben hier kann schwierig sein, und manchmal weiß ich nicht, wie ich mit meinen Gefühlen umgehen soll. Dann hilft mir immer der Austausch mit anderen Eltern.“ Die Mutter lacht. „Wenigstens respektiert Ismail seine Eltern! Er versucht zu akzeptieren, was wir als Eltern ihm geben können, und fragt nie nach mehr!“
Kota Tua, Jakartas Altstadt, 14 Uhr
Unter einer Brücke in der Nähe von Jakartas historischem Rathaus ist die schwüle Hitze erträglich. In dieser surreal anmutenden Parallelwelt leben in unzähligen winzigen und dunklen Verschlägen – tief in den tunnelartigen Schacht gebaut – Hunderte von Menschen. „Hier habe ich früher mit meinen beiden Geschwistern gelebt“, erzählt Yuli. Sie ist 13 und zum ersten Mal wieder an diesem Ort, den sie vor vielen Jahren verlassen hat. „Das Schwierigste an unserem Leben hier war die Einsamkeit. Es war niemand da, mit dem man reden und die schönen und schwierigen Momente teilen konnte.“
Da die Mutter der Geschwister früh starb und der Vater die Stadt verließ, wurde die Siedlung unter der Brücke zu ihrer Zuflucht. „Wenn wir als Kinder damals nicht genug Geld verdienten, um für uns drei Essen zu kaufen, haben wir immer das miteinander geteilt, was wir uns leisten konnten.“
Bekasi, West-Java, 16 Uhr
Sari singt – wie immer, wenn sie den staubigen Heimweg von der Schule durch das Viertel zurücklegt, vorbei an Hühnerhaufen, Feuerstellen und Wäscheleinen, über ein oder zwei große Straßen. Zu Hause angekommen, frisiert kleinen Kassettenrecorder aus Plastik – dann geht es für beide weiter zur Arbeit. Sari zieht jeden Tag mit ihrer Mutter los, um auf den Straßen und Märkten von Bekasi zu singen und so etwas für die Familie mitzuverdienen. „Dass ich nachmittags mit meiner Mutter arbeiten gehe, ist in Ordnung für mich. Ich weiß, dass ich abends nichts zu essen haben werde, wenn ich nicht vorher Geld verdiene.“
Sie ist zwar traurig, dass sie dadurch AGs und Sportunterricht in der Schule verpasst. „Aber es macht mich glücklich, meiner Mutter helfen zu können!“ Sie träumt von einer großen Zukunft: als Astronautin, Köchin, Künstlerin oder Ballerina. Nur singen spielt keine Rolle in ihren Zukunftswünschen.
1 km von Saris Haus entfernt, 17:30 Uhr
Inzwischen geht die Sonne unter, aus der Nachbarschaft klingen Stimmengewirr, Hundegebell und der Gesang der Muezzins. Die Kinder, die hier bei KDM leben, warten darauf, dass endlich der blecherne Gong zum Abendessen scheppert. Lichter gehen an, und die Geschäftigkeit des Tages weicht der Stille der Nacht. „KDM steht für Kampus Diakoneia Modern“, so Sotar Sinaga, der Leiter unserer Partnerorganisation. „Das bedeutet so viel wie ‘sich dienen zu lassen, um anderen zu dienen‘“.
KDM hat hier, am östlichsten Rand von Jakarta, einen Ort geschaffen, wo schon Hunderte von Kindern eine Heimat finden durften, fernab von dem Leben auf der Straße. Seit 1975 setzt sich der Kindernothilfepartner für den Schutz besonders marginalisierter junger Menschen in Jakarta ein. Die Mitarbeitenden suchen Mädchen und Jungen auf der Straße auf, laden sie zu Bildungs- und Freizeitprogrammen ein, versorgen sie medizinisch und nehmen sie, wenn möglich, in das Zentrum in Bekasi auf. 43 Mädchen und Jungen leben hier aktuell; für den Unterricht in drei unterschiedlichen Klassenstufen kommen noch einmal ca. 30 Kinder aus der Umgebung dazu. Auch einen Kindergarten gibt es auf dem Gelände. Die Schule findet hier als alternatives Bildungsprogramm statt und ist damit auch für Mädchen wie Yuli und Sari zugänglich.
Yuli ist inzwischen eines der Mädchen, das im Projekt wohnen darf. Sie zeigt uns ihr Zimmer, das sie mit drei anderen teilt. „Hier habe ich Freundinnen gefunden“, sagt sie. „Am schönsten ist es, wenn wir alle zusammen sind und etwas unternehmen!“ Eine neue Familie – das ist für Yuli der wertvollste Besitz. Und Sari sagt: „Ich bin so froh, dass ich zu KDM kommen, den Unterricht besuchen und Mittagessen bekommen kann!“
Zentral-Jakarta,19 Uhr
Die schwüle Nacht legt sich über den Schleier aus Abgasen und Dampf, der über der Stadt hängt. Millionen Moskitos beginnen ihre Nachtschicht, genauso wie Tausende von Kindern, noch müde von der Schule und der Hitze des Tages. Am Straßenrand sehen wir sie: Kinder, die Taschentücher verkaufen, ein Teenager, der Geige spielt, ein kleiner Spiderman, der mit seinem Kostüm Wartende unterhält. Ein Gitarren-Trio, zwei Jungs, die bunte Puzzle mit arabischen Schriftzeichen verkaufen, eine Frau im „tudung“ (Kopftuch), die einfach nur dasitzt – ihre Füße gefährlich nahe am vorbeirauschenden Verkehr. „Mein Leben besteht aus Schule, Fußball und dem Verkaufen dieser Puzzles“, erzählt Samsul. Auch er ist 13 Jahre alt und verkauft oft bis tief in die Nacht inmitten des Chaos der Innenstadt seine Ware. Dass er mit seiner Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Lebensunterhalt seiner Familie leistet, weiß er. „Es macht mir nichts aus, so spät unterwegs zu sein“, sagt er. „Manchmal spielen wir nachts um ein Uhr noch Fußball bei uns im Viertel!“
Die KDM-Mitarbeiter suchen Kinder wie Samsul regelmäßig in den Straßen Jakartas auf. Immer wieder gelingt es ihnen bei diesen Nachteinsätzen, jungen Menschen – und manchmal auch deren Eltern – einen Platz in ihrem Programm anzubieten. Viele haben jedoch keine Eltern mehr. „Es ist herausfordernd, diesen Waisenkindern das zu bieten, wofür KDM steht: ein Leben in Würde und mit Liebe. Wir wollen, dass alle Mädchen und Jungen, die hier leben, wissen, dass sie geliebt und wertvoll sind und Selbstvertrauen haben dürfen. Sie sollen lernen, im Projekt Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen und ihre Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen“, so Sotar Sinaga.
Darum plant KDM, Pflegefamilien auszubilden und Kindern von der Straße einen Ort zu bieten, wo sie sich zugehörig und geliebt fühlen. Die Arbeit mit Erziehungsberechtigten wie z. B. das Elternforum, zu dem Ismails Mutter gehört, ist den 14 Mitarbeitenden von KDM besonders wichtig. „Die Einbindung von Eltern und Familien kann sehr schwierig sein“, so Sinaga. „Das Dilemma ist häufig, dass Söhne und Töchter aus Pflichtgefühl bei ihren Eltern bleiben möchten, auch wenn diese sie in der Vergangenheit vernachlässigt oder sogar verlassen hatten. Es kommt leider immer wieder vor, dass die Familien der Kinder selbst die grundlegendsten Bedürfnisse nicht erfüllen können.“
KDM-Gelände,Bekasi, 22 Uhr
Der Sportplatz liegt verlassen in der Dunkelheit; ein paar Trikots trocknen am Zaun. Fußball ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit von KDM. In Indonesien ist Fußball für Kinder das Größte! Unser Partner erreicht damit mehr als 500 Kinder wöchentlich. Dieses Jahr steht als Highlight der World Cup für Kinder von der Straße in Katar an. Im Oktober, einen Monat, bevor die „Profis“ hier um den Weltmeistertitel spielen, dürfen Kinder aus der ganzen Welt gegeneinander antreten.
KDM hat das Training für die Mannschaft übernommen, das Indonesien vertreten wird, und schickt ein reines Mädchenteam nach Katar – und damit eine wichtige Botschaft. Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist auch in Indonesien weit verbreitet. Junge Frauen übernehmen später eher den Haushalt, als selbst einen Beruf zu erlernen, und kennen oft nicht ihre Rechte und ihre damit verbundene Würde als Frauen. Die Spielerinnen der Fußballmannschaft haben für ihr Publikum eine klare Nachricht im Gepäck: Mädchen in Indonesien müssen vor Gewalt, Ausbeutung und zu früher Heirat geschützt werden.
Übrigens hat Sari noch einen weiteren Berufswunsch: „Wenn ich groß bin, möchte ich eine Kämpferin sein! Aber ohne Krieg – ich möchte mich für Menschen einsetzen, die Probleme haben, und ihnen helfen. Das soll mein Beitrag für die Zukunft Indonesiens sein.“