„Die Kindernothilfe ist mir ein Herzensanliegen“
Text: Gunhild Aiyub, Fotos: Ralf Krämer
Lüder Lüers gehört zu den letzten Zeitzeugen der Kindernothilfe-Gründung. Er hat mit unterschrieben, als der Verein ins Leben gerufen wurde. Damals ahnte er noch nicht, dass dies sein ganzes Leben umkrempeln würde. Aus der ehrenamtlichen Vorstandsarbeit wurde schließlich ein mehrjähriger 24-Stunden-Job in Indien. Lüder Lüers hat die frühen Jahre der Kindernothilfe entscheidend mit geprägt. Mit 90 Jahren blickt er zurück.
Auf dem Tisch stapeln sich Fotoalben mit Erinnerungen – manche noch schwarzweiß, teils etwas unscharf, andere in verblichenen Farbtönen. Exotische handgeschnitzte Figuren auf Regalen und in Schränken, Gemälde von fremdländischen Menschen und Landschaften an den Wänden erzählen von einer tiefen Verbundenheit ihres Besitzers vor allem mit der indischen Kultur. Lüder Lüers, Gründungsmitglied der Kindernothilfe und langjähriges Vorstandsmitglied, sitzt in seinem gemütlichen Wohnzimmer und erzählt von früher. Wie alles begann, mit der Kindernothilfe und der Arbeit in Indien.
„Als 1959 von Duisburg aus die ersten fünf Patenschaften für Kinder in Indien vermittelt wurden, hatte ich mein eigenes Büro für Gartenbau und Landschaftsplanung und keine Ahnung, dass ich einmal etwas mit diesen Kindern zu tun haben würde.“
Die Patenschaften vermittelte damals ein anderer Duisburger, Karl Bornmann. Aufgrund seiner Hunger-Erfahrungen im 2. Weltkrieg wollte er Kindern in Indien helfen. „Aktion Hungernde“ nannte er seine ehrenamtliche Initiative. Die Zahl der Patenschaften wuchs, immer mehr Menschen in Duisburg wollten helfen. Die Arbeit in der Bornmannschen Wohnung uferte aus: Briefe, Berichte und Werbeblätter mussten verfasst und Geld verwaltet werden. Seine Kinder schwirrten per Fahrrad durch die Stadt, um die Post zu verteilen. Es war abzusehen, dass sich dringend etwas ändern musste.
„Im Juni 1960 war ich zum Abendessen bei einem Freund eingeladen“, erinnert sich Lüder Lüers. „Während er die Kinder zu Bett brachte und seine Frau in der Küche Bratkartoffeln machte, saß ich im Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein Prospekt von der Aktion Hungernde, in der für Patenschaften geworben wurde. Auf dem Titelblatt standen die Worte aus dem Matthäus-Evangelium, die auch die Kindernothilfe später als Leitworte gewählt hat: ‚Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan‘. Das hat mich direkt angesprochen; meine Familie war im Krieg aus dem Osten geflüchtet und hatte alles Hab und Gut verloren. Ich besuchte Karl Bornmann, und am Ende war ich nicht nur Pate, sondern auch noch Übersetzer. Nach und nach wurde ich immer mehr in die Arbeit eingebunden.“
Die Arbeit der Aktion Hungernde weitete sich über Duisburg hinaus aus. Am 7. Januar 1961 verankerten Karl Bornmann, Lüder Lüers und vier weitere Herren ihre Tätigkeiten in einem größeren organisatorischen Rahmen: Sie gründeten den Verein „Kindernothilfe“. Lüers zeigt auf eines der Schwarzweiß-Fotos, die er auf dem Tisch ausgebreitet hat: Sechs ernste, in dunkle Anzüge und Krawatten gekleidete Männer, bis auf Lüers alle älteren Datums, blicken nachdenklich auf die Gründungsurkunde.
„Im November 1962 wurde ich in den Vorstand der Kindernothilfe gewählt – ehrenamtlich, wie alle anderen auch. Die Sitzungen von Beirat und Vorstand fanden in Privatwohnungen statt. Es gab noch kein Büro, geschweige denn eine Geschäftsstelle. Die erste hauptamtliche Mitarbeiterin, Edith Brangs, hatte ihren Arbeitsplatz im Dachgeschoss der Druckerei Brendow in Ruhrort.“
Anfang 1963 beschloss der Kindernothilfe-Vorstand, dass es an der Zeit sei, in Indien nachschauen, ob die Gelder auch richtig eingesetzt wurden. Inzwischen verwaltete die Kindernothilfe 820 Patenschaften, davon 85 Prozent in Indien. Die beiden Vorstandsmitglieder Lüder Lüers und Adolf Kölle reisten sechs Wochen durch das Land. Vieles, was die Männer zu sehen bekamen, bewegte sie sehr. Manches, besonders die fachliche Ausbildung der Leiter und Mitarbeiter der Schülerwohnheime, in denen die Patenkinder untergebracht waren, war oft nicht überzeugend. „Nach unserer Rückkehr fragten wir uns im Vorstand: Wer geht denn jetzt nach Indien und ändert dort was? Irgendwann schauten alle mich an“, lacht Lüers. „Ich hatte mir die Frage auch schon gestellt, und ich sagte ja.“
Die Kindernothilfe war finanziell nicht in der Lage, einen Mitarbeiter nach Indien zu schicken und dort zu unterstützen. Lüers wurde schließlich über die Organisation „Dienste in Übersee“ als Entwicklungshelfer ausgesandt, um in einem ländlichen Entwicklungszentrum in Deenabandupuram Bewässerungsprojekte durchzuführen. In seiner Freizeit sollte er die Kindernothilfe-Projekte betreuen.
Alles hinzuschmeißen und für Jahre ins Ausland zu gehen, war damals noch ein größeres Wagnis als heute. Doch Lüers‘ Familie und Freunde reagierten positiv. Und auch Karl Bornmanns Tochter Ruth war nicht abgeschreckt, als Lüders Lüers ihr einen Heiratsantrag machte mit der wenig verlockenden Aussicht, mehrere Jahre in einem abgelegen ländlichen Gebiet leben zu müssen. Am 11. Juli 1965 reiste das Ehepaar nach Deenabandupuram, wo es sechs Jahre lang blieb. „Das war nicht einfach für meine junge Frau“, gibt Lüers zu. „Wir wohnten 120 Kilometer nordwestlich von Madras, in einem winzigen Dorf. Der nächste Ort war sieben Kilometer entfernt, wir mussten die Post jeden Tag mit dem Fahrrad dort abholen, es gab keine Zustellung bis zu uns.“
Lüers reiste sehr viel herum. Er musste im Umkreis von 500 Kilometern 150 Bewässerungsbrunnen bauen. Darüber hinaus war er ständig auf Achse, um die Kindernothilfe-Projekte zu besuchen. „Anfangs ist meine Frau mit mir gefahren, bis sie schwanger wurde. Auch unser zweiter Sohn ist in Indien geboren. Unser Ältester sprach schon mit vier Jahren Tamil, Englisch und Deutsch. Er hat oft für mich übersetzt.“
1967 eröffnete Lüers auf Bitten der Kindernothilfe in einem Raum seiner Wohnung ein Büro für die stetig wachsende Arbeit des Hilfswerks. „Unsere Mitarbeiter hatten ganz kleine Schreibtische, auf denen nur eine Schreibmaschine Platz hatte. Abends räumten sie die Tische an die Wand und rollten ihre Schlafmatten aus. Schlimm wurde es im Sommer. Wenn man bei 45 Grad im Schatten unter einem Ziegeldach sitzt, ohne Klimaanlage und Ventilatoren, dann läuft einem buchstäblich das Wasser den ganzen Körper herunter.“
Die Kindernothilfe nahm immer mehr Schülerwohnheime in ihr Hilfsprogramm auf. 1969 wurde ihre erste Partnerorganisation gegründet: „Church of South India – Council for Child Care“, Lüers wurde ihr Exekutiv-Sekretär. Das Problem mit den inkompetenten Heimleitungen löste er gemeinsam mit dem neuen Partner: Es wurden Fachdozenten berufen, um alle Leiter und Mitarbeiter in einer zweijährigen Ausbildung zu qualifizieren.
Während der 90-Jährige erzählt, Schönes und Schwieriges, Daten, Namen, Orte nennt, als wäre es erst gestern gewesen, hört man eines immer wieder heraus: Er fühlte sich von Gott in diese Aufgabe berufen. Er, der aus einer nazitreuen Familie stammte, war irgendwann ausgebrochen aus dieser kranken Ideologie. Er war Christ geworden und hatte nur noch den Wunsch gehabt, sich für Jesus einzusetzen. Zum Beispiel, indem er dafür sorgte, dass indische Kinder der Kastenlosen versorgt wurden mit Kleidung, Nahrung, Bildung und einem Dach über dem Kopf. „Und wenn es Probleme gab, hat Gott mir zum richtigen Zeitpunkt Menschen in den Weg gestellt hat, die wir brauchten.“
Sein Buchhalter in Deenabandupuram erkrankte an Tuberkulose, und Lüers traf Hunderte Kilometer entfernt einen ihm bekannten Missionar, der nach einer neuen Aufgabe suchte und Buchprüfer war. Ein Presseartikel über das gehörgeschädigte Kindernothilfe-Patenkind von Ministerpräsident Johannes Rau führte dazu, dass der Rektor des Rheinisch-Westfälischen-Berufskollegs, eine der besten Berufsschulen für Hörgeschädigte in Deutschland, zwölf Jahre lang seinen Urlaub in Indien verbrachte und in den Spezialprojekten Lehrer für hörgeschädigte Kinder ausbildete. Einmal traf Lüers zufällig die englische Missionarin Gertrud Hughes, die seit 30 Jahren in Indien arbeitete. Beide waren tief betroffen über die vielen bettelnden, poliogeschädigten Kindern. „Uns wurde schlagartig klar: Wir müssen etwas tun, damit sie eine Schulausbildung bekommen. So ist das erste Polio-Heim in Kanchipuram entstanden. Das sprach sich sehr schnell rum, so dass wir Ende 1990 zwölf solcher Heime in verschiedenen Gebieten Südindiens hatten.“
Nach sechs Jahren in Deenabandupuram blieben Lüers und seine Familie noch eineinhalb Jahre in Bangalore, wo er, finanziert von Dienste in Übersee, vollzeitlich für den indischen Kindernothilfe-Partner tätig war. Im Frühjahr 1973 kehrten sie nach Deutschland zurück. Die Kindernothilfe hatte inzwischen ihre eigene Geschäftsstelle in Duisburg-Buchholz bezogen, Projekte in weiteren Ländern waren hinzugekommen, die Zahl der Patenkinder belief sich auf rund 14.600. Lüder Lüers wurde stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Er knüpfte Kontakte zu Partnern in anderen Ländern und sorgte dafür, dass neue Projekte aufgenommen und die Arbeit immer weiter qualifiziert wurden. Ende Oktober 1991 ging er in Rente. Wenn man einen Verein gegründet und viele Jahre begleitet hat, hat man sicherlich ein ganz besonderes Verhältnis zu der Arbeit. Aber Lüers stellt klar: „Das ist nicht meine Kindernothilfe. Sie ist mir ein Herzensanliegen, aber sie hat das Recht und muss sich auch anders entwickeln als zu meiner Zeit.“
Die Spuren vieler ehemaliger Patenkinder verfolgt er bis heute. Mit Stolz erzählt er die Geschichten, was aus diesem und jenem Kind geworden ist. Vor Jahren hat er wochenlang Indien und Äthiopien bereist und diese Geschichten aufgeschrieben. „Ein Mädchen aus einem Heim in Indien ist heute Ausbilderin für Krankenschwestern in London und finanziert ihre ganze Familie. Andere sind Dozenten und Professoren, Ärztinnen, Pfarrer, IT-Experten, Tischler, Schneiderinnen geworden. Sie können sich und ihre Familien ernähren und helfen jetzt ihrerseits vielen anderen Menschen. Ich wünsche der Kindernothilfe, dass sie ihrer Berufung treu bleibt und Not leidende Kinder und ihre Familien stark macht, damit sie ihre gottgegebene, menschengerechte Zukunft finden und die Hilfe, die sie selbst bekommen haben, weitergeben können.“