Lesbos: Sicherheit und Würde für Geflüchtete
Text: Jürgen Schübelin
Noch nie in der Geschichte waren so viele Menschen auf der Flucht wie 2020: mehr als 80 Millionen! Die Vereinten Nationen schätzen, dass Kinder fast die Hälfte dieser Vertriebenen, Verfolgten, vor Kriegen und den Auswirkungen des Klimawandels Geflohenen ausmachen. Zu fast 70 Prozent, so das UN-Flüchtlingskommissariat, kamen sie im zurückliegenden Jahr aus gerade mal fünf Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar. Zuletzt wuchs diese list of shame Ende 2020 noch um Äthiopien an.
Covid-19 verschlechterte die Situation von Geflüchteten zusätzlich – und führte zu einem dramatischen Anstieg der Zahlen: Verglichen mit 2019 um zehn Millionen Menschen – fast 15 Prozent! Aus allen Ländern, in denen sich Kindernothilfe engagiert, berichten unsere Partner, dass die Pandemie vor allem eine Katastrophe für die Ärmsten ist: Und Menschen auf der Flucht, ohne schützende, solidarische Strukturen wie Familien oder Gemeinden aller Art, gehören seit jeher zu den Verletzlichsten. Wie erbarmungslos und zynisch dabei staatliche Institutionen mit Schutzsuchenden verfahren, musste einer unserer Partner zuletzt in aller Brutalität selbst erfahren.
Hier ist die Geschichte der Menschen aus dem Projekt Pikpa: Auf diese brutale Operation am 30. Oktober 2020 war niemand vorbereitet: Schwarz maskierte Spezialkräfte der griechischen Polizei rückten im Morgengrauen dieses Freitags in das auch von der Kindernothilfe unterstützte Schutzzentrum in Mytilini auf der Ägäis-Insel Lesbos ein. Wie unser Partner Lesbos Solidarity berichtete, riegelte ein Teil der Polizei-Sondereinheiten das Areal am Rand der Inselhauptstadt ab. Mitarbeitende, Psychologen, Anwälte und medizinisches Personal hatten auf diese Weise keinen Zutritt mehr zum Lager. Währenddessen holten andere Uniformierte die Bewohner aus den kleinen Häusern und Unterkünften des Camps. Rücksichtslos zwangen sie die geschockten und völlig verängstigen Menschen in die bereitgestellten Busse. Eine Person brach während der Polizeiaktion unter Stress zusammen und musste ins Krankenhaus gebracht werden.
Pikpa – ein würdiges, humanes Zuhause auf Zeit
Seit 2012 bot das Pikpa Camp, das hauptsächlich durch Ehrenamtliche - darunter viele Freiwillige aus der ganzen Welt - betreut wurde, mehr als 30.000 besonders gefährdeten Geflüchteten ein würdiges, humanes Zuhause auf Zeit. Fast alle waren sie zuvor in Moria gewesen, dem berüchtigten, im September 2020 abgebrannten Elendslager, „überwiesen“ von den Behörden und der Lagerverwaltung an Lesvos Solidarity: Mütter mit kleinen Kindern, Schwangere, Menschen mit Behinderung, schwer Traumatisierte und Opfer von Folter. Sie alle fanden in Pikpa Sicherheit und engagierte Betreuung. Bis zu diesem schwarzen Freitag. Auslöser für die Polizeiaktion war ein Räumungsbefehl von Notis Mitarakis, dem griechischen Minister für Migration und Asyl. Seine Begründung: Es sei administrativ einfacher, Geflüchtete in Großlagern zu versorgen als in mehreren kleineren Camps.
„Das ist völlig inakzeptabel und absurd“, entgegnet die Gründerin von Lesvos Solidarity, Efi Latsoudi: „Ein Zufluchtsort wie Pikpa wird gewaltsam geräumt, während die griechische Regierung und die anderen europäischen Staaten gleichzeitig ein menschenverachtendes Moria#2-Großlager mit seinen inhumanen und katastrophalen Lebensbedingungen installieren.“
Wie verschiedene Organisationen aus der Zivilgesellschaft vor Ort vermuten, wollte die griechische Regierung mit ihrem martialischen Polizeigroßeinsatz offenbar Fakten schaffen. Ziel war es demnach, einem etwaigen Eingreifen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zuvorzukommen. Dort hatten Anwälte mehrerer Kinder gegen eine mögliche Räumung geklagt.
Die Polizeikräfte brachten die Menschen aus dem Schutzzentrum zunächst in das alte Kara-Tepe-Lager – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Großlager, das die griechischen Behörden nach dem Brand in Moria aus dem Boden stampften. Allerdings droht auch Alt-Kara-Tepe in diesen Wochen die Räumung. Unter den Kindern und den Erwachsenen herrscht jetzt seit über drei Monaten panische Angst, am Ende doch in der neuen Zeltlagerstadt mit ihren katastrophalen Lebensbedingungen zu landen.
„Ein Armutszeugnis für die Europäische Union!“
„Was für ein Armutszeugnis für die Europäische Union – und was für eine Botschaft!“, sagt Ute Gniewoß über das Vorgehen der griechischen Regierung. Sie ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche Berlin–Brandenburg–schlesische Oberlausitz und eine der internationalen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen im ehemaligen Schutzzentrum Pikpa. Seit 2014 reist sie regelmäßig während ihrer Jahresurlaube in die Ägäis und engagiert sich dort im Lesvos Solidarity-Team in der Arbeit mit Geflüchteten. Pfarrerin Gniewoß war es, über die der Kindernothilfe-Kontakt zu diesem griechischen Partner zustande kam. „Acht Jahre menschenfreundliche Arbeit, für viele bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit – in wenigen Stunden ausradiert“, schrieb sie uns noch am 30. Oktober entsetzt: „Soll nicht mehr gelten, nicht zählen. Gilt aber trotzdem. Zählt trotzdem!“ Und Carsten Montag, Programm- und Projektvorstand der Kindernothilfe, fügte hinzu: „Wer militärisch organisierte Spezialeinheiten gegen Kinder und Frauen in Marsch setzt, zeigt, wo er steht: ganz sicher nicht auf der Seite von Demokratie und Menschenrechten“.
Was die griechischen Behörden, finanziert aus EU-Mitteln, den Geflüchteten – die Allermeisten von ihnen aus Syrien und Afghanistan – die es in den vergangenen Jahren von der türkischen Küste aus in Schlauchbooten auf eine der Ägäis-Inseln geschafft hatten, „anbieten“, ist eine Unterbringung in sogenannten Reception and Identification Centres. Das Berüchtigste ist das provisorische Zeltlager Kara Tepe (Schwarzer Hügel) außerhalb von Mytilini auf einem ehemaligen Schießplatz der Armee – direkt am Meer. Auch vier Monate nach seiner Eröffnung sind die Bedingungen für die 7.500 Schutzsuchenden unverändert katastrophal und inhuman. Leben in Eiseskälte in Sommerzelten, im Schlamm und Dreck, viel zu wenig chemische Toiletten, unerträgliche hygienische Bedingungen, nicht ausreichendes Essen.
Die beiden österreichischen Journalisten Johannes Pucher und Michael Völker beschreiben Kara Tepe in einer an Weihnachten erschienen Reportage für den Standard in Wien mit den Worten: Ein „Schandfleck, ein Mahnmal für das Versagen der Europäischen Union, ein Hort der Unmenschlichkeit. Ein Zustand, den die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten offenbar bewusst in Kauf nehmen, um den Flüchtlingen zu demonstrieren: Das erwartet sie, wenn sie sich auf den Weg nach Europa machen…“
Was derartige Bedingungen in Kindern auslösen, schildern die wenigen medizinischen Mitarbeitenden von Humanitären Organisationen, die von den griechischen Behörden überhaupt noch in das umzäunte Lager gelassen werden: Dauerstress, ganz viele wiederkehrende Panikattacken, Albträume und schwere Depressionen - ganz abgesehen von ständigen Erkältungen, Bronchitis-Erkrankungen, Magen-Darm-Infektionen und Hautkrankheiten als Folge der katastrophalen hygienischen Bedingungen. Dazu das extrem hohe Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren.
Ein offener Brief an die Bundesregierung
Drei der griechischen Partnerorganisationen der Kindernothilfe Zeuxis, The Smile of a Child und Lesvos Solidarity ermutigen uns in den Wochen vor Weihnachten zu einem klaren Signal: Am 10. Dezember schreibt Katrin Weidemann, die Vorstandsvorsitzende der Kindernothilfe, einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, Innenminister Horst Seehofer und Außenminister Heiko Maas, der in drei Forderungen mündet:
- Die sofortige Unterbringung aller Menschen in Kara Tepe - wie der jungen Mütter und ihrer Kinder aus dem gewaltsam geräumten Pikpa Camp - in festen Häusern, endlich ausreichend Babynahrung, Hygieneartikel und medizinische Versorgung!
- Die zweite Forderung lautet: Die besonders Schutzbedürftigen aus dem ehemaligen Pikpa-Projekt müssen sofort von den griechischen Inseln evakuiert werden! Katrin Weidemann: „In Deutschland haben sich Bundesländer und Hunderte Kommunen zur freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt. Diese humanitären Bestrebungen dürfen nicht weiter blockiert, sie müssen unterstützt und ausgebaut werden. Der Verweis auf eine europäische Lösung darf nicht verhindern, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird!“
- In der dritten Forderung geht es Kindernothilfe ganz grundsätzlich um die menschenwürdige Gestaltung des Europäischen Asylsystems. In ihrem Brief an die Bundesregierung formuliert Weidemann: „Der New Pact on Migration and Asylum der EU setzt auf geschlossene Lager, unter Umständen mit Haftbedingungen. Der Versuch, Schutzsuchende an den Außengrenzen festzuhalten und sie direkt in autoritäre Staaten wie die Türkei zurückzuschicken, obwohl es dort keinen wirksamen Schutz gibt, ist gescheitert. Die Bundesregierung muss sich für menschenwürdige und rechtsstaatliche Verfahren einsetzen!“
Begleitet wurde der Brief von einer Postkarten- und einer online-Aktion unter dem hashtag #SicherheitUndWürde.
Corona drängt alles in den Hintergrund
Rückenwind für diesen Vorstoß kam wenige Tage vor Weihnachten von 246 Bundestagsabgeordneten aus fünf Fraktionen, darunter auch Unions- und SPD-Politikerinnen und -Politiker, die ebenfalls in einem Brief an Innenminister Seehofer appellieren, die zugesagte Aufnahme von besonders gefährdeten Geflüchteten aus den griechischen Lagern zu beschleunigen und in Kooperation mit dem Bündnis „Seebrücke“ deutlich mehr Schutzsuchende in Deutschland aufzunehmen: „Wir sehen die Bundesregierung in der Pflicht“, den über 200 Kommunen und einzelnen Bundesländern, die dazu ihre Bereitschaft erklärt haben, „eine Zusage für die Aufnahme zu erteilen und dafür einen konstruktiven Weg anzustoßen und voranzutreiben“.
Im Aufmerksamkeitsschatten der alles beherrschenden Nachrichten über die Corona-Pandemie ist das Elend der Geflüchteten jedoch kein allzu großes politisches Thema. Die Evakuierung selbst von kranken Kindern und ihren Familien aus Kara Tepe und anderen Lagern kam während des Winters nicht voran. Und das Lesvos-Solidarity-Team war gezwungen, eine Vielzahl von neuen Strategien zu entwickeln, um den Kontakt zu allen Kindern und Müttern aus dem aufgelösten Pikpa Camp zu halten, sie weiter psychologisch und medizinisch zu begleiten sowie Rechtsbeistand zu bieten.