Rumänien: Zuflucht, aber kein Zuhause
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch
Mehr als sechs Millionen Menschen haben wegen des Krieges die Ukraine verlassen, darunter viele Frauen mit Kindern. Arme Länder wie Rumänien nehmen viele von ihnen auf. Wir als Kindernothilfe leisten unseren Beitrag, indem wir dort unsere langjährigen Erfahrungen mit der Begleitung von Geflüchteten weltweit einbringen – in der Zusammenarbeit mit neuen Partnern, die sich mit uns für die Rechte und den Schutz der Kinder einsetzen.
Der Garten ist voller spielender Kinder, die ihre auf Bänken sitzenden Mütter im Blick haben. Sie hüpfen auf dem Trampolin und freuen sich schon auf das Eis, das gleich verteilt wird. Doch das friedliche und fröhliche Bild, das so aussieht wie ein Sommercamp für Familien, täuscht. Denn anders als in den Vorjahren betreibt der Kindernothilfepartner Caritas hier in Câmpulung kein Ferienlager, sondern ein Auffangzentrum für geflüchtete Familien aus der Ukraine.
Die Mütter wissen: Ihre Kinder sind hier in Sicherheit
"Wir sahen die Not der Menschen und boten unsere Hilfe an“, meint Lucia Soci, die Projektmanagerin des örtlichen Partners. „Kurzerhand funktionierten wir unsere Herberge für Pilger des Jakobwegs zu einer Unterkunft für Geflüchtete um.“ Seither leben hier 23 Menschen, 16 von ihnen Kindern. Jede Familie hat ein kleines Apartment mit zwei Zimmern und einem Bad, gegessen und gekocht wird gemeinsam. Lucia und ihrer Assistentin Andreea Cocut steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Seit der Krieg begann, hat sich ihre Arbeit verdoppelt, denn die Sorge um die Geflüchteten kommt zu der üblichen Betreuung von benachteiligten Jugendlichen und Obdachlosen dazu. Trotzdem halten die beiden durch. „Wir können das Schicksal der Menschen nicht ändern, aber wir können dafür sorgen, dass es ihnen hier gut geht“, meint Lucia.
Für die sechs Mütter ist vor allem eines wichtig: ihre Kinder in Sicherheit zu wissen. Alina ist mit Sohn Artem (14) und Tochter Maria (10) aus der Stadt Nicolajev geflohen, die seit Monaten unter heftigem Beschuss steht. „Am Ostermorgen schlug bei uns im Garten eine Bombe ein. Das Haus steht noch, aber alle Fensterscheiben sind kaputt“, erzählt die 33-Jährige. „Wenn ich mit meinem Mann telefoniere, höre ich im Hintergrund die ganze Zeit Sirenen und Kampflärm. Auch wenn die Trennung schmerzt, bin ich jedes Mal froh, dass wir in Sicherheit sind.“
Alina berichtet auf Russisch, wird von Dana Cvolan ins Rumänische und dann von Andreea ins Englische übersetzt. Die Sprachbarriere ist die größte Herausforderung des Projektes, ohne Dana läuft hier nichts. Anfangs kam sie als Ehrenamtliche hierher, inzwischen hat die Caritas dank der Unterstützung der Kindernothilfe ein Budget, um sie zu bezahlen. Aber Dana kann immer nur nachmittags, vormittags behelfen sich Lucia und Andreea mit den Übersetzungsprogrammen auf ihren Handys.
Handys sind die einzige Verbindung in die Heimat
Auch Artem hält über sein Telefon Kontakt zu seinen Freunden. Die meisten sind quer über Europa verstreut, sitzen in Frankreich oder Deutschland. Aber einer ist in Nicolajev geblieben. „Er erzählt, dass er jede Nacht im Bunker verbringen muss, weil ständig Bomben fallen.“ Ob er nicht nachkommen kann, in die Sicherheit Rumäniens? Artem schüttelt den Kopf. „Als wir im März flohen, ging das noch, aber jetzt sind die Wege verschlossen.“
Dankbar für die unglaubliche Hilfsbereitschaft
Im Auffanglager von Palanca in Moldau, nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, steht Gabriela Barbei auch heute hinter ihrem Samowar. Gerade ist wenig los, aber in der Nacht gab es im Süden heftiges Bombardement, deshalb rechnet sie für morgen mit einem neuen Ansturm. „Wenn die Kinder hier ankommen, sind sie völlig verängstigt“, erzählt die Mitarbeiterin von Concordia, einer Partnerorganisation der Kindernothilfe in Moldau. „Aber wenn sie dann hier ganz in Ruhe einen Tee trinken können, begreifen sie langsam, dass die Gefahr vorbei ist und fangen an, sich zu entspannen.“
Das Zelt, in dem Concordia diese Ersthilfe anbietet, ist Teil eines Auffanglagers, das vom UN-Flüchtlingswerk organisiert wird. Pendelbusse bringen die Menschen von der Grenze in die kleine Zeltstadt, wo sich moldauische Organisationen um sie kümmern. Es gibt eine psychologische Notfallbetreuung, Rollstühle für diejenigen, die nicht laufen können, ein Büro, das hilft, die Weiterreise zu organisieren und sogar einen Tierarzt, der sich um die Hunde und Katzen kümmert, die viele Geflüchtete dabeihaben. Die meisten arbeiten wie Gabriela ehrenamtlich. „Wir tun, was wir tun müssen, und wir sind froh, dass es anderswo Menschen gibt, die uns dabei unterstützen.“
Manchmal holt das Heimweh die Mütter mit aller Macht ein
Natürlich betreut Bianca auch die Kinder. Gemeinsam mit der Dolmetscherin sitzt sie im Spielraum der Kleinsten und arbeitet mit Hilfe einer Handpuppe die Flucht auf. Jedes einzelne Wort muss übersetzt werden. Dana hat inzwischen gelernt, dabei die Stimmlage für jede Puppe anzupassen. „Die Jüngsten kommen am besten mit der Situation zurecht. Hier gibt es viele Kinder, mit denen sie Freundschaften knüpfen und spielen können. Das hilft ihnen, die Flucht und den Verlust zu überwinden.“
„Wenn wir aufgeben, wird es unser Land nicht mehr geben“
Obwohl alle keinen sehnlicheren Wunsch haben, als nach Hause zurückzukehren, ist keine der Mütter dafür, dass die Ukraine kapituliert. „Wenn wir aufgeben, wird es unser Land nicht mehr geben“, sagt Alina. „Das Leben, wie wir es kennen, wäre vorbei. Wir müssen die Ukraine verteidigen.“ Wie in Deutschland ist auch in Rumänien die Bevölkerung an diesem Punkt geteilter Meinung. Lucia und Andreea beteiligen sich nicht an dieser Diskussion. „Wir haben von Anfang an gesagt, die Politik interessiert uns nicht. Wir sehen nur, dass es hier Mütter mit Kindern gibt, die Schutz brauchen“, meint Lucia. 20 weitere Plätze kann sie vergeben, es gibt bereits eine Anfrage von einer neunköpfigen Familie. „Wir müssen die alten Pilgerzimmer erst renovieren, aber das Budget der Kindernothilfe gibt das her. Wenn alles gut läuft, kann die Familie in einem Monat einziehen.“
Das Augenmerk der Sozialarbeiterin liegt im Moment besonders auf der seelischen Gesundheit der Mütter. „Die ständige Sorge macht einen auf die Dauer krank. Deshalb bieten wir den Frauen Jobs in unseren Projekten an, das lenkt sie ab und ermöglicht es ihnen, ein wenig Geld zu verdienen.“ Eigentlich sind die Schneiderei und das Restaurant Projekte, in denen Jugendliche ohne Ausbildung qualifiziert werden. Nun sind sie quasi nebenbei zu Einrichtungen geworden, die den Müttern in ihrem Alltag in der Fremde eine Aufgabe und Ablenkung geben.
Das wichtigste Ziel von Lucia und Andreea ist, dass die Kinder trotz all der Probleme hier Kinder sein können. Ständig denken sich die beiden etwas Neues aus, mit dem sie die Jungen und Mädchen auf andere Gedanken bringen können. Wanderungen in den Karpaten. Ein Besuch auf dem Bauernhof. Neue Spielgeräte für den Garten. Oder einfach Seifenblasen für alle. „Dank der Kindernothilfe haben wir jetzt auch ein Budget für solche kleinen, aber wichtigen Anschaffungen“, sagt Lucia dankbar.
„Die beste Zuflucht, die wir uns vorstellen können“
Ob mit Job, Schule und neuen Freunden ein Zuhause auf Zeit werden kann? „Nein“, meinen Alina und ihre Kinder einstimmig. „Wie kann es ein Zuhause sein, wenn Papa nicht da ist? Aber es ist die beste Zuflucht, die wir uns vorstellen können.“