Geboren auf der Flucht: Ein Baby zwischen drei Welten
Text: Annika Fischer, Fotos: Ralf Rottmann/Funke Foto Services
Odobești. Die ukrainischen Kinder: Warum Baby Nicole nach dem Bürgermeister heißt und Katerina mit ihrer Familie in diesem Jahr Weihnachten verpasst.
Katerina konnte nicht bleiben, und sie kann auch nicht zurück. Nicht nach Cherson, wo der Feind verbrannte Erde hinterlassen hat und immer noch mehr zerstört. Nicht an den Ort, wo der Krieg ihre Familie im doppelten Sinne zerriss: Der älteste Sohn kämpft am rechten Ufer des Flusses Dnipro, für die Ukraine. Der Ehemann auf der linken Seite, als Soldat der Russen. In Panik floh die 38-Jährige mit sechs Töchtern und Nichten und dem Zweijährigen über die Grenze nach Rumänien. Dort wurde Nicole geboren, ein Baby zwischen drei Welten.
Dass Katerina jetzt über Weihnachten redet, ist bloß Ablenkung. Von den schrecklichen Kriegsbildern, die ihr gerade wieder jemand geschickt hat von daheim – auf das Handy, das sich die Kinder teilen müssen für die Online-Schule. Und von ihrem Schmerz um die beiden Männer. Über den Sohn will sie nicht reden, weil sie die Sorgen um ihn nicht aushalten kann. Über den Mann nicht, weil sie kaum aussprechen kann, was sie über ihn denkt. Dabei muss sie das dauernd: den Kindern erklären, warum der Vater und Onkel für sie nicht mehr existiert.
Weihnachten ohne die Familie: Nach Cherson können Kinder nicht zurück
„Bald ist Weihnachten“, sagt Katerina also, und Nikolaus sei ja auch schon vorbei. Der brachte nach dem orthodoxen Kalender am 19. Dezember die Geschenke und legte sie den Kindern unter das Kopfkissen. Sie hatten auch immer einen Weihnachtsbaum zu Hause in Cherson, in der kleinen, aber gemütlichen Wohnung, in der sie alle zusammenkamen zum Fest. „Dieses Jahr verpassen wir alles.“ Sie waren so glücklich in der Ukraine.
Aber Katerina hatte keinen Keller, in dem sie „die Kinder in Sicherheit bringen“ konnte, sie sagt, es war „schwer, die Bomben zu hören und nicht zu wissen, wo sie fallen“. Wer würde der Nächste sein? Die Flugzeuge waren so nah und überall, im März schon. Da nahm sie die Kinder und die Dokumente, einen Rucksack für jeden und floh mit dem Auto von Freunden über die nächste Grenze. Es war die rumänische, und so kamen die acht ins Dorf Odobești, nördlich von Bukarest. Wo der Bürgermeister sagt: „Die Ukrainer kommen nicht mit Koffern voller Geld, sie kommen eher barfuß.“
Diese Familie kam mit Plastikschlappen und dem, was man ihr im ersten Lager schenkte: Handschuhe und ein paar Schleifen und Spangen für die Haare der Mädchen. Aber was dann passierte, war ein Glück im Unglück. Der Kindernothilfe-Partner Concordia fand ein Haus zwischen Apfelbäumen und Weinreben, mit einer Karte von Rumänien an der Wand. Man legte dem Bürgermeister die schwangere Katerina und die Kinder ans Herz, einem „Mann mit großem Herzen und großem Lächeln“, wie sie bei Concordia sagen. Und als das Jüngste kam, wurde Nicolae Alecu Patenonkel, die kleine Nicole heißt nun nach ihm.
Zukunft mit den Ukrainern: "Ich betrachte diese Kinder als unsere"
„Die Kinder leiden, und das tut mir weh“, sagt der 65-Jährige. Er war mal in Kiew, er muss jetzt viel daran denken, „es ist doch kälter dort“. Und er kann sich „nicht vorstellen, wie die Menschen in diesem Winter leben, ohne Heizung“. Alecu hat schon lange verstanden: Die Menschen aus der Ukraine „können nicht mehr zurück“. Sie werden also länger bleiben und sie werden mehr. Und haben „keinen anderen Ort, wo sie hingehen können“. Er wolle ihnen Gastfreundschaft und Menschlichkeit geben, die Zukunft seines Dorfes sieht er mit den Ukrainern. „Ich betrachte diese Kinder als unsere.“
Dabei hat Nicolae Alecu selbst viele Kinder aus armen Familien in der Gegend. Im Zentrum von Concordia in Odobești betreuen sie 35 kleine Rumänen; gerade versuchen sie, Anton (7) davon zu überzeugen, dass 5+3 nicht gleich 7 ist. Auch die Kinder von Katerina kommen jetzt hierher, sie haben etwas die Sprache gelernt, ein paar rumänische Freunde gefunden, aber seit es früh dunkel wird, sehen sie einander nicht mehr oft.
Und in Gedanken sind sie viel zu Hause. „Alles in Ordnung“, sagt Anastasia, die Zwölfjährige tapfer, „aber ich möchte nach Hause.“ Auf dem T-Shirt, das ihr jemand schenkte, ist ein rasender Hase zu sehen. „Don’t run away“, steht darauf: Renn nicht weg. Aber was sollten sie machen? Katerina sagt, sie gehen erst zurück, „wenn die Ukraine frei ist“.
Swetlana bekam auf der Flucht ihre Zwillinge
Swetlana aus Charkiw war schwanger, als die Russen kamen. Sie wartete noch ein paar Tage, hörte die Bomben einschlagen in ihrer Straße – bis der Frauenarzt ihr sagte, sie würde ihre Kinder im Bunker bekommen müssen. Sie flohen in ihrem alten Dacia, Swetlana, ihre beiden Großen, zehn und zwölf Jahre alt, die Dreijährige und auch Andrej, ihr Mann: Der durfte mit, weil Väter von mindestens drei Kindern die Ukraine verlassen dürfen. Sie waren noch nie verreist und schon gar nicht ins Ausland.
Sie hatten gerade die rumänische Grenze überquert, da setzten die Wehen ein. Vier Wochen zu früh, Swetlana sagt: durch den Stress. Andrej hielt an, fragte einen Polizisten: Wo man denn hier Kinder bekommen könne? Man brachte Swetlana mit Martinshorn ins Krankenhaus und ihre Familie ins Krankenzimmer nebenan, es wurden Georgi geboren und Leonid. Die Zwillinge sind jetzt acht Monate alt. Die Bürger der Grenzstadt brachten Geschenke, und Swetlana ist unendlich dankbar.
Weil sie selbst so viel Hilfe bekam, auch jetzt in Bukarest, haben sie und ihr Mann ihr Haus in Charkiw einer anderen Familie überlassen, die ausgebombt ist. Mitgenommen hat sie nur eine Dokumentenmappe und die Pässe. „Die Russen zerstören alles“, sagt die 35-Jährige traurig, das Hospital, das sie ausgewählt hatte für die Geburt, gibt es nicht mehr. Aber alles wird gut enden, da ist sie sicher. Vorerst hat Andrej einen Job als Autolackierer gefunden, die älteren Kinder gehen in die Schule. Und Yuri, der Zehnjährige, spielt Fußball, er ist in der rumänischen Mannschaft der Stürmer. Die Menschen in Bukarest, sagt Swetlana, „haben ein großes Herz“. Nur wenn sie mit daheim telefoniert, tut es immer wieder weh. „Die Kinder wollen nach Hause.“
Nika will nicht mehr nach Hause zurück
Nika wollte nicht weg aus Odessa, sie war sicher, „es würde alles gut mit uns“. Acht Monate harrte sie aus, aber die Bomben, sagt die 33-Jährige, wurden immer lauter, die wirtschaftliche Situation immer schlechter, die Zukunft für ihre Kinder immer schwieriger. Ihre Kinder: Sascha, der Zehnjährige, der nicht mehr auf den Spielplatz mochte, weil seine Freunde alle fort waren. Yulia und Xenia, die Zweijährigen, die lange nicht gesprochen haben, kein Wort. Die Spannung, der Krach, die Sirenen, vermutet Nika, dabei hat sie versucht, die Kinder ihre Sorgen nicht spüren zu lassen.
Sie wollten ihr Haus nicht verlassen, nicht die Eltern, aber nun, da sie doch weg sind aus der Ukraine, kann ihnen kein Ort der Welt weit genug weg sein. Nika und ihr Mann Ivan, 35, glauben nicht, dass sie jemals zurückkehren werden nach Hause. „Wir starten bei Null“, sagt Nika, und sie werden zurechtkommen. Nika kann gut backen, Ivan „kann alles“. Vorerst strandeten die fünf in Bukarest, Rumänien. Im Schutzhaus des Kindernothilfe-Partners Concordia haben sie zum Schlafen zwei Matratzen zusammengelegt. Die Kinder spielen mit Handpuppen, und selbst dem schweigsamen Sascha geht es gut, nach einem Schuljahr mit Corona, einem halben mit Krieg und nun gar keiner Schule mehr: „Solange nur die Familie um ihn herum ist.“
Es ist immer Trubel im Haus, aber Nika findet diese zweite Zwischenstation nach dem Flüchtlingslager „relaxing“. In Bukarest, sagt sie, sind Flugzeuge am Himmel normal. In Odessa brachten sie den Krieg.
Natalias Auto mit den Töchtern darin wurde auf der Flucht beschossen
Natalia hatte nicht gerechnet mit dem Krieg, und als er kam, blieb sie trotzdem noch zwei Monate, in einem Keller. Sie sagt, sie habe gar nicht groß nachgedacht: Ihre Eltern sind auch in Cherson, ihr Mann kämpft an der Front, da geht man doch nicht weg? Es gab keine Lebensmittel, keine Medikamente mehr zu kaufen und erst nach Wochen wieder Brot, aber dann kam dieser Bombenangriff, ganz nah. „Es musste etwas passieren.“ Natalia, 35, geriet in Panik und nutzte „unsere letzte Chance“: einen Korridor nach draußen, sie hatten eine Viertelstunde. Socken, Wäsche, Sportklamotten warf sie in eine Tasche und ein paar Butterbrote für die beiden Töchter – die nahmen die Russen ihr an der ersten Kontrolle weg.
Es war kalt noch im April, der Fluchtweg war nicht sicher, das wusste Natalia. Aber kam noch schlimmer: Bei Mikolajiw wurde ihr Auto beschossen, mit Sofia, 6, und Aleksandra, 10, darin. Sie schoben es zu einer Werkstatt, die wechselte die Reifen. Erst in Odessa gab es auch neue Scheiben. Eine Woche dauerte es, bis die drei die rumänische Grenze erreichten. „Was hast du gegen die Russen?“, wurde Natalia gefragt, sie weiß nicht mehr, was sie geantwortet hat.
Natalia, die Bäckerin, Sofia und Aleksandra sind jetzt in Bukarest, sie haben eine winzige Wohnung gefunden: mit Bett, Tisch, Kühlschrank und Bügeleisen. Heute bringen die Helfer des Kindernothilfe-Partners Concordia einen Gutschein, den sie eintauschen können gegen etwas zu essen. Und zwei Rucksäcke für die Mädchen: mit Heften, Stiften, Malbüchern, Tintenpatronen. Die kleine Sofia breitet alles auf dem Bett aus und sitzt mitten darin, „wie viel ist das, Milliarden“?
Natalia freut sich mit ihr, aber sie denkt viel an ihre Eltern. Manchmal hat sie tagelang keinen Kontakt, „es ist niemand mehr dort, der ihnen hilft“. Sie selbst kann es auch nicht, von Rumänien aus. „Wenn du sie jeden Tag siehst, schätzt du sie zu wenig. Jetzt verstehen wir, was wertvoll ist im Leben.“ Auch die Kinder vermissen Oma und Opa. Und den Papa. Und die Katze: Sie heißt Tannenbaum.
Über die Autorin
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