Wenn Armut zu Behinderungen führt
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch
Armut macht krank und begünstigt Behinderungen. Die betroffenen Kinder werden vom bolivianischen Staat oft vergessen, und ihre Familien haben kaum die Möglichkeit, sie zu fördern. In Poroma schließt der Kindernothilfepartner Ayninakuna diese Lücke.
Im Wartebereich der Kinderabteilung des Gesundheitszentrums von Poroma ist kein einziger Stuhl mehr frei. Auf einem Tisch wird gewogen und gemessen, hinter einem Schirm geimpft. Am meisten Andrang ist aber in der Ecke mit den bunten Spielsachen. Alle Kinder wollen dorthin, von zu Hause kennen sie so etwas nicht. Aber diese Ecke ist kein Wartebereich für die Kinder, sondern die neu geschaffene Abteilung für kognitive Voruntersuchungen. Gerade ist Amaru dran. Er ist 20 Monate alt und soll zeigen, ob er einfache Sätze versteht, wie weit er mit seiner Sprachentwicklung ist und wie es um seine Motorik bestellt ist. „Wenn wir früh feststellen, dass es irgendwo Defizite gibt, haben wir die Möglichkeit, durch gezielte Förderung einzugreifen“, erklärt Soledad Saigua Puma, die Koordinatorin des Projektes des Kindernothilfepartners Ayninakuna in Poroma.
Bei Wayra kam die Diagnose zu spät, sie trägt bleibende Schäden davon
Ein Steinhaus und ein kleines Gemüsefeld
Mithilfe von Medikamenten verbesserte sich Wayras Gesundheitszustand, doch sie braucht Therapien. Hilaria, die als Ehrenamtliche im Projekt arbeitet, kommt einmal im Monat, um mit der Kleinen Übungen zu machen und Doña Illary zu zeigen, wie sie selbst ihre Tochter fördern kann. „Sie kann jetzt laufen und fängt an zu sprechen“, meint sie, stolz darauf, etwas bewirken zu können. Das Projekt half der Familie auch, sich besser um die Ernährung der Kinder kümmern zu können. Sie schaffte eine Wasserpumpe und einen Tank an und half beim Anlegen eines kleinen Feldes, sodass nun frisches Gemüse auf den Tisch kommt. Außerdem sorgte sie für den Bau einer gemauerten Hütte. Zuvor hatte die Mutter mit den Kindern in einem Verschlag aus Ästen gelebt.
"Was soll das bringen, mit dem Kind zu spielen?"
Zurück in der Kinderabteilung der Krankenstation von Poroma. Der kleine Amaru hat unterdessen gezeigt, dass er altersgemäß entwickelt ist. Wäre das nicht der Fall, hätte die Krankenschwester den Jungen an das Projekt überwiesen und Soledad hätte sich um die nötige Förderung gekümmert. Damit es erst gar nicht so weit kommt, klärt das Projekt die Eltern darüber auf, wie wichtig es ist, sein Baby zu stimulieren, damit es seine geistigen Fähigkeiten gut entwickeln kann. Für Amarus Mutter war das etwas völlig Neues. „Ich habe schon drei ältere Kinder. Als die klein waren, gab es diese Untersuchungen und die Beratung noch nicht.“ Zuerst war Doña Yana skeptisch. Was soll das bringen, mit dem Kind zu spielen oder ihm Geschichten zu erzählen? „Aber dann sah ich, wie viel weiter Amaru ist, als seine Geschwister in diesem Alter. Und ich bin froh, dass es jemand bemerken wird, wenn doch etwas nicht stimmt.“
“Langsam spüre ich, dass sich die Akzeptanz dieser Menschen verbessert“
Nicolas Calderon Seña ist 34 Jahre alt und arbeitet seit elf Jahren als Lehrer in einer Dorfschule bei Poroma. Er unterrichtet derzeit insgesamt drei Schüler mit verschiedenen Behinderungen. Dabei bekommt er vom Kindernothilfepartner Ayninakuna Unterstützung. Die Journalistin Katharina Nickoleit hat mit ihm gesprochen.Nein, das spielte an der Universität kaum eine Rolle. Wir wurden dazu nicht geschult. Alles, was ich darüber weiß, habe ich mir selbst beigebracht. Zum Beispiel Gebärdensprache, um mich mit gehörlosen Kindern verständigen zu können. Ich habe mir dazu im Internet Informationen besorgt und in der Hauptstadt mit einem Professor darüber gesprochen.
Wie gehen die Kinder ohne Behinderung mit ihren beeinträchtigten Mitschülerinnen und Mitschülern um?
Es gibt sehr viel Spott und Hohn. Solange die Kinder hier in der Klasse sitzen, kann ich das irgendwie kontrollieren. Aber vor allem auf dem Schulweg ist es schlimm, da gibt es niemanden, der sich kümmern kann. Die Kinder laufen pro Strecke ein, zwei Stunden und sind währenddessen permanent Hänseleien und zum Teil auch körperlichen Übergriffen durch die anderen ausgeliefert.
Wie gehen Sie damit im Schulalltag um?
Wir sprechen mit den Kindern und versuchen ihnen zu vermitteln, dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler auch Gefühle haben, obwohl sie sich vielleicht nicht so gut ausdrücken oder so gut laufen können wie sie. Manchmal lasse ich sie eine Strafarbeit schreiben oder sie müssen nach dem Unterricht den Müll auf dem Schulgelände einsammeln. Das hilft etwas. Aber die Situation ist schwierig. Deshalb bringe ich betroffene Kinder manchmal mit dem Motorrad nach Hause, wenn ich merke, dass es gerade wieder besonders schlimm ist.
Sprechen Sie auch mit den Eltern?
Ja. Aber das Stigma der Behinderung ist groß. Auch die Eltern haben viele Vorurteile. Soviel ich in der Schule auch dazu sage, es nutzt wenig, wenn die Eltern das Thema selbst nicht ernstnehmen. Am ehesten hilft noch, wenn ich den Eltern ankündige, dass ich ihre Kinder von der Schule verweisen werde, wenn sie andere Mädchen und Jungen mobben.
Wie hilft Ihnen das Projekt bei Ihrer Arbeit mit behinderten Kindern?
Als das Projekt von Ayninakuna begann, hatte ich hier vor Ort endlich einen Ansprechpartner, an den ich mich zum Thema Inklusion wenden konnte. Zum ersten Mal gab es jemanden, der verstand, wie schwierig es ist, sich angemessen um diese Kinder zu kümmern. Alleine das hilft sehr.
Was macht das Projekt ganz konkret?
Es gab Schulungen, mit denen ich den Grad der Behinderung einschätzen lernte, um dann das Niveau entsprechend anpassen zu können. Das ist wichtig, um die Kinder nicht zu überfordern. Außerdem bekam ich spezielle Lehrmaterialien, die mir helfen, ihnen Rechnen und das Alphabet zu vermitteln. Das Projekt ist wie ein zusätzlicher Lehrer, das hilft, die Lücken zu füllen.
Hat sich durch das Projekt auch etwas in der Gesellschaft geändert?
Es gibt immer wieder Veranstaltungen und Workshops, in denen Erwachsene für das Thema sensibilisiert werden. Dabei lernen sie, dass auch Menschen mit Behinderungen Rechte haben. Und so langsam spüre ich, dass sich die Akzeptanz dieser Menschen verbessert.