Haiti und seine Menschen im Dauerstress
Text: Jürgen Schübelin, Fotos: picture alliance, Kindernothilfe-Partner, Reinhard Schaller
Goudou Goudou, dieses lautmalerische Wort aus der Kreolsprache, haben die Menschen in Haiti 2010 erfunden, um die verheerendste Naturkatastrophe in der Geschichte Lateinamerikas zu umschreiben: 316.000 Menschen kamen bei dem schweren Erdbeben an jenem 12. Januar ums Leben, Hunderttausende wurden verletzt und mindestens 1,8 Millionen verloren ihr Zuhause. Erholt hat sich der bitterarme Karibikstaat bis heute nicht. Als am 14. August 2021 die Erde erneut bebte und die seismologischen Stationen mit 7.2 auf der Richterskala eine noch heftigere Intensität als 2010 (7.0) registrierten, war der damals durchlittene Albtraum sofort wieder präsent.
Erneut traf es die Menschen – diesmal im grünen Südwesten der Insel Hispaniola – völlig unvorbereitet. In den beiden größten Städten der Region, Les Cayes und Jérémie, stürzten Hunderte von Gebäuden ein. Ulrike Schaller, Physiotherapeutin aus dem Schwarzwald, lebt und arbeitet mit ihrem Mann Reinhard seit 1998 als Entwicklungshelferin in Les Cayes und Port-à-Piment. Sie engagieren sich dort u. a. in einer von der Kindernothilfe mitgeförderten Berufsschule. Frau Schaller, beschreibt, wie sie diesen Samstagvormittag, 14. August erlebte, als um 8:29 Uhr die Erde zu beben begann: „Das war ein furchtbares Gefühl, wie auf Wasser, alles schien plötzlich zu schwimmen.“ Gläser und Bücher fielen aus den Regalen zu Boden. Das Haus hielt jedoch zum Glück stand.
Wenig später begann sich das Hospital Centre de Santé Lumière, eines der Projekte, in denen Ulrike Schaller mitarbeitet, mit Verletzten zu füllen: „Die meisten Kinder und Erwachsenen, die ganz oft auf Pickups oder in Bussen – aber zum Teil auch mit Motorrädern – ins Krankenhaus gebracht wurden“, berichtet die Physiotherapeutin, „hatten Knochenbrüche an Armen, Beinen, Oberschenkeln – oder auch schwere Gesichtsverletzungen, Quetschungen und Prellungen erlitten. Ganz wichtig war, dass wir es schnell schafften, die Blutungen zu stillen und die Brüche zu schienen.“ Schon nach kurzer Zeit begann das kleine Krankenhaus angesichts des Ansturms der Verletzten aus allen Nähten zu platzen: Nach sechs Stunden mussten sogar Frischoperierte aus den Betten geholt und auf Pritschen unter schnell errichteten Zeltplanen auf den Platz vor dem Hospital gebracht werden, während die Erde immer noch weiterbebte. „Wir mussten versuchen, die Menschen so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu bringen. Immerhin haben wir es geschafft, diejenigen, die auf dem Parkplatz lagen, zumindest unter den Planen vor der Sonne und dann vor dem starken Regen zu schützen.“
"Das Beben hat die ganze Landschaft umgeformt"
Verschärft wurde die Lage dadurch, dass im wichtigsten Krankenhaus der Stadt, dem Hospital Général, der komplette OP-Bereich zerstört wurde und Teile eines Stockwerks einstürzten. Zwei Kinder überlebten nur wie durch ein Wunder, so Ulrike Schaller, nachdem sie samt ihrer Betten ins Untergeschoß des Gebäudes geschleudert wurden. Dass die Zahl der Opfer mit fast 2300 Toten und 12.500 Verletzten angesichts der Intensität des Bebens nicht höher lag, dafür hat Reinhard Schaller, gelernter Berufsschulpädagoge und Schlossermeister, eine logische Erklärung: „Hier bei uns in Les Cayes oder auch den anderen Städten im haitianischen Südwesten ist die Bebauungsdichte nicht so extrem hoch wie in der Region um Port-au-Prince. Dort hatten die Menschen beim Erdbeben von 2010 vor allem in den wie Dominosteine zusammenbrechenden Armenvierteln an den steilen Hängen nicht den Hauch einer Chance, sich aus ihren einstürzenden Häusern zu befreien.“
Anders als 2010 hielten diesmal – zumindest in Les Cayes – die älteren, im traditionellen kreolischen Baustil mit viel Holz und Fachwerkelementen gebauten Häuser dem Beben besser stand. Trotzdem sind die Schneisen der Verwüstung unübersehbar. Überall stand in der Stadt mit dem drittgrößten Hafen Haitis das Wasser auf den Straßen, weil durch das Beben das Grundwasser an die Oberfläche gedrückt worden war. Auf den Straßen gab es kein Durchkommen mehr, weil sich die Menschen in Panik im Freien drängten. Und nach und nach wurde dann auch schmerzhaft deutlich, welche Schäden das Beben an der Infrastruktur, Straßen, Brücken, Strom- und Wasserleitungen und öffentlichen Gebäude, angerichtet hatte. Auch die durch Hurrikan Matthew im Oktober 2016 zerstörte – und mit Kindernothilfe-Unterstützung komplett wieder aufgebaute Berufsschule von Port-à-Piment – trug erneut schwere Schäden davon.
Besonders verheerende Zerstörungen gab es im bergigen Hinterland von Les Cayes – entlang der Route Nationale 7, der neugebauten Verbindungstraße nach Jérémie. Hier wurden durch vom Erdbeben ausgelöste Bergrutsche ganze Dörfer mitgerissen und viele Menschen verschüttet. Reinhard Schaller, der diese Region auf seinem Motorrad erkundete, berichtet von einer Hirtengruppe aus 19 jungen Leuten, die morgens um 6 Uhr mit ihren Tieren aufgebrochen waren und von denen nur zwei überlebten: „Das Beben hat hier die ganze Landschaft umgeformt; dort wo es früher einen kleinen Fluss gab, hat sich jetzt ein See gebildet.“
Die Macht krimineller Banden
Erst nachdem die Polizei mit den Bandenchefs „humanitäre Passierscheine“ aushandelte, gelang es, auch über die Straße medizinische und andere Versorgungsgüter in die betroffenen Gebiete zu bringen. Zumindest ein Problem scheint den Menschen bislang erspart geblieben zu sein: Die Coronazahlen sind weiterhin erstaunlich niedrig. Offiziell gab es bislang "nur" 22.000 Infizierte und 611 Tote.
Kinderzentren als Lichtblick in Katastrophen
Der Kindernothilfe-Vorstand bewilligte bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben 100.000 Euro als Soforthilfe. So konnten unsere Partner vor Ort mit dem bewährten Instrument der Child Friendly Spaces (CFS) – also Kinderzentren, die den Schutz und die Versorgung von Kindern im Katastrophengebiet mit pädagogischen Initiativen kombinieren, arbeiten. Solche Kinderzentren hatten sich bereits nach dem Erdbeben 2010 wie auch nach Hurrikan Matthew als äußerst wirkungsvolle Instrumente erwiesen. Sie helfen Kindern inmitten der Verwüstungen und Zerstörungen über die traumatischen Belastungen hinweg und überbrücken die Zeit, bis in den Schulen wieder gearbeitet werden kann.
Die Partnerorganisationen Service Jésuite aux Migrants (SJM) und die Fédération des Ecoles Protestantes D'Haïti (FEPH) legen den Finger aber in die noch viel größere Wunde: „Unsere Soforthilfe vor Ort reicht nicht aus“, schrieb das SJM-Team nach Duisburg, „um Haiti und seinen Menschen aus der Negativspirale der vergangenen Jahre herauszuhelfen, braucht es strukturelle Veränderungen.“ Das Land im Dauerkrisen- und Dauerchaos-Modus, benötige endlich soziale, politische und wirtschaftliche Stabilität. Für die Verantwortlichen von FEPH ist darüber hinaus klar, dass dafür „ein Mentalitätswandel, ein neues Denken und Handeln unabdingbar sind“. Deshalb setzt dieser Partner seit vielen Jahren darauf, Kinder und ihre Familien bewusst auf mögliche Katastrophen- und Risikosituationen vorzubereiten, Überlebensstrategien zu üben, um zu verhindern, dass im Moment von Naturkatastrophen und Krisen Kinderrechte und der Schutz von Kindern vor Gewalt mit unter die Räder geraten.