Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Guatemala: Die größte Gefahr droht von der eigenen Familie 

Text: Hubert Wolf, Fotos: Fabian Strauch, erschienen in der Funke Mediengruppe im Dezember 2018

Guatemala-Stadt. Die Kindernothilfe und die einheimische Organisation „Coincidir“ helfen
Kindern, die Opfer von Gewalt geworden sind. Jetzt wollen sie ein neues Schutzhaus bauen. Die Leser der Funke Mediengruppe haben im Dezember 2018 rund 129.000 Euro dafür gespendet.


Margarita wollte technisches Zeichnen lernen und dann Architektin werden. Da war sie 15, hatte
die neunte Klasse abgeschlossen, einen Plan und die Zukunft in der Tasche – wie sie glaubte. Dann aber lud ihr Bruder sie zum Essen ein, ein wesentlich älterer Mann, der schon lange von den Eltern fortgezogen war. An den Abend erinnert sich Margarita heute so: „Meine Arme und Beine sind eingeschlafen, ich bin bewusstlos geworden, später bin ich in einem Hotelzimmer aufgewacht.“ Wie sich herausstellen sollte, hat ihr Bruder sie geschwängert in jener Nacht, ihr eigener Bruder.

Margarita ist das so passiert, in einer Kleinstadt in der Nähe der Hauptstadt Guatemala-Stadt. Vater und Mutter der 16-Jährigen wissen bis heute nicht, dass ihre Enkeltochter ein Kind ihres Sohnes und ihrer Tochter ist. Und sie sollen es auch nicht. „Ich habe ihnen nur erzählt, dass ich vergewaltigt worden bin“, sagt Margarita: „Ich habe an eine Abtreibung gedacht, aber meine Mutter hat gesagt, ein Kind ist ein Segen.“

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Reportage Guatemala; Foto: Junge Mutter und ihr Kind schauen auf Wand mit Bild (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Margarita, mit 16 schon Mutter, hat im Projekt neue Hoffnung geschöpft.
Reportage Guatemala; Foto: Junge Mutter und ihr Kind schauen auf Wand mit Bild (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Margarita, mit 16 schon Mutter, hat im Projekt neue Hoffnung geschöpft.

Das sagen viele in Guatemala, und fragt man nach ihrer Kinderzahl: „So viele Gott mir gibt.“ In den Augen der Armen gibt er ihnen damit auch Arbeitskräfte und Menschen, die im Alter helfen. Doch Margarita geht nicht mehr zur Schule, sucht irgendwann irgendwas als Arbeit, wenn die Kleine größer ist. Und ihr Bruder ist natürlich auch weg. Architektin? Ausgeträumt.

Eins ist auffällig auf dieser Reise, die zu missbrauchten und geschlagenen Kindern führen wird, zu Kindern, die arbeiten geschickt werden, und zu Jugendlichen, die zu Banden gehören: Auffällig ist das Fehlen der Männer.

Margarita in ihrer Not hat Anschluss gefunden an Coincidir (spanisch: „Gemeinsam wirken“). Das ist eine Hilfsorganisation in der Stadt San Andrés in Guatemala. die sich als Partner der Kindernothilfe um Kinder und Jugendliche kümmert, die Gewalt erleiden oder denen sie droht. Schicksale wie das von Margarita kennen sie hier, sie sind nicht selten, auch wenn der Vergewaltiger kaum einmal der Bruder ist.

Margarita, das Kind mit Kind, malt bei Coincidir, und richtig gut, sie spielt und tobt sich aus – es gibt ja nichts für Kinder in diesen Orten, gar nichts, kaum mal einen Spielplatz, eher ein Autowrack, das spannend ist zu erkunden. Nichts, wenn nicht die Helfer neben allem anderen, was sie tun, regelmäßig dort auftauchten: Für die Kleinen haben sie Luftballons, Hüpfsäcke oder Springseile dabei, mit den Großen machen sie Spiele und Trainings, die die Gemeinschaft stärken. Zurück im Schutzzentrum von Coincidir, sagt Margarita: „Ich habe hier Hoffnung geschöpft.“ Und: „Hier helfen mir viele Leute, darüber zu reden, wie ich die Situation bewältige.“ Pause. „Es ist sehr schwer, gute Gefühle für das Baby zu entwickeln.“ Später wird ein Helfer erzählen, Margarita rede von ihrem Kind als „Mein Virus“. Genau daran arbeiten sie.

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Reportage Guatemala; Foto: Kinder spielen auf einer Wiese (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Kinder beim Spielen auf der Wiese.
Reportage Guatemala; Foto: Kinder spielen auf einer Wiese (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Kinder beim Spielen auf der Wiese.

Jorge: Der Vater haut drauf

Von dem zehnjährigen Jorge wird es hier kein Bild geben. Der Älteste von drei Geschwistern sei ein „sehr einsames, ängstliches, in sich gekehrtes Kind, das Schwierigkeiten hat, Beziehungen aufzubauen“. Ein Opfer, die Mitschüler schikanieren es, und der Vater haut drauf. „Sein Vater ist gewalttätig. Er kommt nach der Arbeit müde und frustriert nach Hause und lässt das an den Kindern aus. Zu Hause haben alle Angst vor dem Vater.“ Das erzählt uns Saul Interiano. Jorge ist ein typischer Fall, das steht leider fest, darum hat Interiano ihn ausgesucht: In zu vielen Familien hier im Land lauert die Gewalt den Kindern nicht auf der Straße auf, nicht in dunklen Ecken, nicht in Bandenvierteln. Sondern zu Hause. Von den Eltern her. Aus Frust, im Suff. Zur Erziehung der Kinder – natürlich nur zu ihrem Besten ...
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Reportage Guatemala; Foto: Kind hängt Bild auf (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Was die Kinder in ihren eigenen Familien erleben, ist erschütternd.
Reportage Guatemala; Foto: Kind hängt Bild auf (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Was die Kinder in ihren eigenen Familien erleben, ist erschütternd.
„Traditionelle, auf Gewalt beruhende Erziehungspraktiken werden von Generation zu Generation weitergegeben. Eltern unterschätzen deren Folgen wie Lernschwierigkeiten oder Traumatisierungen“, heißt es bei der Kindernothilfe, die mit Coincidir zusammenwirkt. Jorge kommt schon länger in deren Zentrum. Er singt hier, er bekommt psychologische und schulische Hilfe. Es gehe ihm besser, schreiben die Helfer. Sie schreiben aber auch dies: „Jeden Tag ist er der Erste im Zentrum und der Letzte, der es verlässt.“
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Reportage Guatemala; Foto: Kinder mit Instrumenten beim Musizieren (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Kinder mit Instrumenten beim Musizieren (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Kind tanzt, andere schauen zu (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Kind tanzt, andere schauen zu (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Voll, laut und eng ist es, ein Provisorium; Coincidir kann manche seiner selbst gewählten Aufgaben hier nicht erfüllen. Ganz vorn: der Schutz von Kindern, die Gewalt ausgesetzt sind. Und zwar ein Schutz, der nicht endet, wenn das Haus schließt. Wo Kinder auch Hilfe bekommen, zurückzufinden, denn Coincidir hilft ja nicht nur Engeln mit Pausbäckchen. Sondern auch Mädchen und Jungen am Rande von Kriminalität oder Drogensucht. „Viele finden solche Kinder verzichtbar, sie fallen schnell aus allem heraus, etwa aus der Schule“, sagt Interiano: „Wir versuchen, sie zurückzuholen.“

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Diana: Meine Jungen zu schlagen, war mein größter Fehler

In einem großen Raum, der dennoch viel zu voll ist, 39 Frauen sitzen im Stuhlkreis und ein Mann. Sie sind aus der ganzen Umgebung gekommen, aus San Andrés, aus El Tejar, aus Parramos und Santo Domingo zu einer Art Fortbildung in gewaltfreier Erziehung. Da hat Sonia gut zu tun, die Psychologin. Schön, dass eine Diana sagt: „Ich habe meine Jungen geschlagen, das war mein größter Fehler.“ Weniger schön, dass eine Carmen sagt, die Bibel rechtfertige Schläge. Ihre eigene Erfahrung bestätige das: „Wenn ich meinem Kind auf die Hand haue, lernt es schneller, als wenn ich etwas nur sage.“ Es ist noch ein weiter Weg bis zum Ziel, Sonia, oder? Dem Ziel, dass sie als „Botschafterinnen der Friedfertigkeit“ in ihre Familien zurückkehren mögen. 39 Frauen und der eine Mann.

Dass es geht, beweist der Vater von Rosa. „Er reagierte positiv auf die Beratung, hat gelernt, seinen Ärger zu beherrschen, und zeigt kein gewalttätiges Benehmen mehr“, heißt es in einem Bericht. Zuvor hatte man Rosa angesehen, dass sie oft geschlagen wurde.
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"Schreien, weglaufen und es jemandem erzählen."

"Schreien, weglaufen und es jemandem erzählen."

Sieben Kinder sitzen in einem Nebenraum. Was macht ihr hier? „Wir werden über Selbstschutz aufgeklärt“, sagt Alvaro (14). Linsi (12): „Und es gibt Gespräche über Gewalt.“Fatima (10): „Wenn etwas geschieht, sollen wir es nicht für uns behalten, sondern erzählen.“ Linsi: „Schreien, weglaufen und es jemandem erzählen.“ Mayerli (12): „Wenn wir es jemandem sagen und der nimmt uns nicht ernst, sollen wir zu jemand anderem gehen.“ Carla (12): „Es gibt hier kein Mobbing und kein Fluchen. Anders als in der Schule.“

Nebenan probt Evelyn (17). Sie geriet an die Drogen, da war sie neun oder zehn, und das war kurz nach der Trennung ihrer Eltern. „Ich traf auf der Straße Mädchen, die Drogen nahmen, da nahm ich sie auch“, sagt Evelyn, die überlebt hat. Sie geht zu Coincidir, weil sie dort Rap machen kann, Sprechgesang; Jugendliche will sie damit erreichen und aufklären, dass es nicht nur Sex, Drogen und Gewalt gibt.
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Reportage Guatemala; Foto: Frau mit Mikrofon, sitzend (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Frau mit Mikrofon, sitzend (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)

Schutzhaus für Kinder, die Gewalt erfahren haben

Die 57 Kinder und Jugendlichen sind auf einem Feld vor der Stadt, oberflächlich betrachtet, bei einer Art Spiele ohne Grenzen gelandet; tatsächlich aber lehrt man sie gerade Vertrauen, Gemeinsinn und Zusammenhalt. Schön, ihnen beim Leben zuzusehen. Mama Margarita, selbst Kind, stürzt sich ins Leben ihrer Gruppe: lässt sich, wie geplant, rückwärts in Hände fallen, die sie auffangen; balanciert über besetzte Stühle; stemmt Reifen, auf den Schultern anderer stehend.

Dieses Feld ist ein besonderes: Genau hier soll das neue Schutzhaus entstehen, ein Rückzugspunkt für Kinder, die Gewalt erleiden. Familiäre, sexuelle und kriminelle Gewalt, Schulhofgewalt, Straßengewalt. „Cedupaz“ wird es heißen – das spanische Kürzel steht für „Zentrum für Friedenserziehung“. Was haben die Kinder am Wochenende geschuftet, um einen ersten Teil des Geländes zu roden: weg mit den dichten Bohnenbüschen! Der spätere Strom? An der Straße stehen Masten. Anschluss? Der Bus hält hier, man kann aber auch laufen. Wasser? Das im unterirdischen Kanal ist zu dreckig, sie werden einen Brunnen graben müssen.
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Reportage Guatemala; Foto: Kinder und Jugendliche richten Mast auf  (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Kinder und Jugendliche richten Mast auf  (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Und dann? Saul Interiano hat diejenigen seiner Schutzbefohlenen, die 57 von mehreren Hundert, die mit zum Feld gekommen sind, in Gruppen eingeteilt: Sie sollen nun malen und aufschreiben, was sie sich wünschen für das Schutzhaus. Sie malen: Sportfelder, Gärten, Leseraum, Brunnen, Feuerstellen; Computerraum, „Biblioteca“, „Teatro“ schreiben sie. Essraum. Schlafraum.

Und die Größeren malen einige kleine, besonders geschützt stehende Häuschen: für Mädchen und Jungen, die raus müssen aus ihrer Familie, raus aus ihrer Gefährdung. „Die Kinder sind Opfer“, sagt Interiano, „aber wenn sie keine Hilfe bekommen, wiederholen sie das Verhalten, wenn sie erwachsen werden.“

Und am Ende pflanzen die Kinder zwei Lebensbäume auf diesem Bauplatz der Hoffnung. Eine Frau sagt: „Dieses Haus soll helfen, dass unsere Kinder einmal ein besseres Leben haben als wir.“ Sie sagt das im Alter von 21 Jahren. Was mag ihr widerfahren sein? Manchmal willst du nicht mehr fragen.
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Reportage Guatemala; Foto: Kinder sitzen um ein großes Plakat herum und malen ihre Vorschläge (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Die Kinder bestimmen mit, wie das neue Projekt aussehen soll.
Reportage Guatemala; Foto: Kinder sitzen um ein großes Plakat herum und malen ihre Vorschläge (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Die Kinder bestimmen mit, wie das neue Projekt aussehen soll.

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Ein verängstigtes Mädchen verschränkt die Arme und versteckt sein Gesicht, Symbolbild zum Thema Gewalt, Foto: Kindernothilfe

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