Schule als Schutzräume im Chaos
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Kindernothilfe-Partner
Einmal mehr versinkt Haiti im Chaos von Gewalt und Kriminalität. Die Pandemie verunsichert die Menschen zusätzlich. In dieser schwierigen Situation ist es die wichtigste Aufgabe der Kindernothilfe-Partner, Kindern und Jugendlichen Stabilität und Sicherheit zu geben. Die Saint Francois de Sales Schule in Carrefour ist einer der Zufluchtsorte für sie.
Die Internetverbindung bricht immer wieder ab, und es ist kaum zu verstehen, was Patricia, Ronaldo und Kensia zu sagen haben. Eigentlich hätte das Interview vor Ort in der Saint Francois de Sales Schule in Carrefour, der zweitgrößten Stadt Haitis, stattfinden sollen. Doch kurz vor dem geplanten Besuch aus Deutschland wurde eine der Nonnen des Ordens der Kleinen Schwestern, dem Kindernothilfepartner, entführt und erst nach einigen Tagen gegen Zahlung von Lösegeld freigelassen. Seit Dezember sind Entführungen in Haiti an der Tagesordnung. Jeder, der so aussieht, als habe er Familie, die bereit sein könnte, Geld für die Freilassung zu bezahlen, läuft Gefahr, von bewaffneten Banden gekidnappt zu werden. Dazu gibt es regelmäßig Generalstreiks, bei denen Straßensperren mit brennenden Autoreifen errichtet werden und es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei kommt. Dann sind jedes Mal Verletzte und oft auch Tote zu beklagen.
Weil die Sicherheitslage keinen persönlichen Besuch erlaubt, treffen wir uns per Zoom. Ständig friert das Bild ein, und das Mikrofon sendet statt Sprache immer wieder nur einen lauten Dauerton. Die drei jungen Leute ertragen das mit deutlich mehr Geduld als ihre deutschen Gesprächspartnerinnen – schlechtes Internet ist eines ihrer geringsten Probleme.
Gerüchte über Corona schüren die Angst
Wie geht es den Kindern inmitten dieser unfassbaren Gewalt, nachdem eine ihrer Lehrerinnen entführt wurde? Das ist eine Frage, die nicht gestellt werden soll, denn der Schock sitzt tief, und die Befürchtung, dass die Jugendlichen bei dem Gedanken an diese schrecklichen Tage im Januar retraumatisiert werden, ist groß. Deshalb klammern wir den Elefanten im Raum aus und sprechen über die andere große Krise, die nicht nur Haiti, sondern die ganze Welt schüttelt: Corona.
„Covid macht mir große Angst“, sagt die 15-jährige Kensia. „Es ist eine neue Krankheit, die ich nicht verstehe. Es wird viel darüber geredet, wie schlimm sie ist, aber das, was ich höre, passt nicht zusammen.“ Wie viele Opfer Corona in Haiti fordert, ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen, in dem gescheiterten Staat gibt es kaum Tests und keine offiziellen Zahlen. Dazu kommt eine Flut an Gerüchten und Fehlinformationen. Wie wird das Virus übertragen? Wie kann man sich schützen? Was sind die Symptome? Weil all das unklar ist, wirkt die Krankheit auf die Kinder und Jugendlichen noch bedrohlicher, als sie es ohnehin ist. „Für uns war das eine völlig neue Situation, weil wir so viel Zeit zu Hause verbringen mussten. Auch mit dem Distanz-Unterricht war es schwierig, denn viele von uns haben zu Hause keinen Strom oder Internetzugang“, berichtet Patricia, die mit ihren 17 Jahren in die 9. Klasse geht.
Schulen sind wichtiger denn je
Die Saint Francois de Sales Schule hat deshalb, nachdem sie nach einem kompletten Lockdown wieder öffnen durfte, nicht nur intensiv über Corona aufgeklärt, sondern mit Unterstützung der Kindernothilfe auch Handwaschstationen aufgebaut, Masken und Desinfektionsmittel gekauft. „Seitdem wir wissen, wie wir uns schützen können und auch die Mittel dazu haben, haben wir weniger Angst vor der Krankheit“, meint Patricia.
Gut geschützt zum Unterricht gehen zu dürfen, ist in Haiti eine echte Ausnahme. Schule ist ohnehin schon ein Luxus, denn es gibt nur wenige staatliche Schulen. Die meisten sind in privater Hand und müssen bezahlt werden. Viele können sich das nicht leisten, und so sind die Hälfte der haitianischen Bevölkerung über 15 Jahren Analphabeten. Wer das Glück hat, einen Platz in einer staatlichen Schule zu bekommen, darf sie im Moment oft nicht besuchen. Die Eltern verbieten es, weil es an Masken und Desinfektionsmitteln fehlt und sie Angst haben, dass sich ihre Kinder anstecken könnten. Wäre es angesichts der hohen Kriminalität auf den Straßen nicht ohnehin besser, sie blieben daheim? „Nein“, sagt Pierre Hugue Augustin, der Büroleiter der Kindernothilfe in Haiti, mit Nachdruck. „Gerade jetzt sind die Schulen wichtiger denn je, denn sie sind die einzigen Schutzräume, die die Kinder haben.“
Angst und Schrecken hinterlassen Spuren
Das liegt nicht nur daran, dass mitunter sogar Menschen aus ihren vermeintlich sicheren Häusern entführt werden. Die Eltern sind vollauf mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt, damit sie inmitten all des Chaos und der Gewalt genug Geld verdienen, um jeden Tag Essen auf den Tisch stellen zu können. Dieser ungeheure Stress macht sie aggressiv und entlädt sich zunehmend in Gewalt und auch Missbrauch gegenüber ihren Töchtern und Söhnen. Ständig in Angst und Schrecken leben zu müssen, geht nicht spurlos an den Kindern vorbei. „Unsere Projektleiter erzählen mir, dass die Mädchen und Jungen sehr schreckhaft sind, schnell Streit anfangen und häufig über Unterleibs- und Kopfschmerzen klagen“, erzählt Pierre Hugue Augustin. Das sind klassische Symptome für posttraumatische Belastungsstörungen, hervorgerufen von unverarbeitetem Schrecken.
Mit ihren 14 Projekten in Haiti erreicht die Kindernothilfe gut 20.000 Kinder. Seit 1973 ist sie hier vertreten. In dieser Zeit hat das Land eine Katastrophe nach der anderen durchlebt. Grausame Diktaturen, Militärputsche und bürgerkriegsähnliche Zustände wechselten sich ab. Alleine im vergangenen Jahrzehnt mussten die Folgen eines schweren Erdbebens, eines verheerenden Hurrikans und eine Choleraepidemie bewältigt werden. Nun beugen die herrschenden Politiker die Verfassung ihrem Machtwillen. Um die eigentlich im Februar vorgesehenen Neuwahlen zu unterdrücken, ließen sie Kriminelle Angst und Schrecken verbreiten. Anders als früher sind davon nicht nur in erster Linie Oppositionelle betroffen, sondern die gewalttätigen Banden tyrannisieren die gesamte Bevölkerung. So schlimm wie jetzt sei es seit Jahrzehnten nicht gewesen, ist überall zu hören und zu lesen. Die derzeitige Welle der Gewalt ist selbst für die an Desaster gewöhnten Haitianer nicht mehr zu ertragen.
Inmitten dieses seit Monaten anhaltenden Ausnahmezustands tut die Kindernothilfe alles dafür, die Schulen offen und damit einen Rest von normalem Alltag am Leben zu halten. Wenn die Straßenzüge, in denen sie liegen, abgeriegelt werden, bleiben sie zu, doch an den meisten Tagen bieten sie den Kindern eine sichere Zuflucht. Natürlich wird dort auch gelernt, aber im Moment ist es für die traumatisierten Mädchen und Jungen mindestens ebenso wichtig, zu spielen. „Im Spiel können sie ihre Gefühle ausdrücken und verarbeiten und die ganze Situation für einen Moment vergessen“, sagt Pierre Hugue Augustin. „Das hilft ihnen, den Stress abzubauen und zu sich zu finden.“
Mutmachlieder gegen die Angst
Schon weil inmitten der Gewalt die Furcht vor Corona das Letzte ist, was die tief verunsicherten Kinder gebrauchen können, wurden nicht nur alle Schülerinnen und Schüler mit Masken versorgt, sondern sie erhielten auch Desinfektionsmittel für daheim. Das Wissen darüber, wie man sich richtig vor dem Virus schützt, haben die Kinder und Jugendlichen aus der Schule mitgenommen und in ihrer Gemeinde weitergegeben. Ob das der ausschlaggebende Grund dafür ist, dass es bislang in keiner der Familien auch nur einen einzigen Coronafall gab, ist schwer zu sagen. Aber es hat geholfen, dass die Eltern ihren Kindern erlaubten, wieder in die Schule zu gehen und ihre Ängste zu mildern.
Mindestens ebenso wichtig wie Hygieneschutz sei die psychosoziale Betreuung, sagt Raphael Destra, der Sozialarbeiter der Saint Francois de Sales Schule. „Wir treffen uns mit den Kindern und Jugendlichen in kleinen Freundesgruppen oder auch in größeren Versammlungen und sprechen mit ihnen darüber, wie wir unserer Angst am besten begegnen können“, erklärt er. Das ist eine sehr erwachsene Sicht der Dinge. Der 17-jährige Ronaldo formuliert es anders. „Das beste Mittel gegen die Angst ist, einander Freude zu machen und etwas Schönes zu erleben. Deshalb machen wir gemeinsam Musik und spielen zusammen.“ Seine Mitschülerinnen stimmen zu. Es sind die Kinder und Jugendlichen, die Ideen für Aktivitäten entwickeln, die helfen. Lieder dichten und singen, die Mut machen. In Bildern von Erlebtem zu erzählen, das so schlimm ist, dass man darüber nicht sprechen kann, aber doch leichter zu ertragen, wenn man es mit anderen teilt. Obwohl wir eigentlich nur über Corona reden, ist klar, dass es dabei auch um die Verarbeitung der Gewalt geht.
„Wir sind froh, hier lernen zu dürfen“
Es ist schwer vorstellbar, dass die Mädchen und Jungen bei all dem noch an ihre Bildung denken und lernen können. „Doch“, versichert Patricia. „Lernen ist wichtig! Im Unterricht kann ich zeigen, was ich kann. Ich spüre, wie ich mich weiterentwickele, ich bekomme Lob und Anerkennung und habe etwas, worauf ich stolz sein kann. Auch das hilft mir, mich von meiner Angst abzulenken.“ Und so sind die durch die vielen Schulschließungen entstandenen Lücken gerade nicht die größte Sorge der Schulleitung. Als das Gespräch eigentlich schon zu Ende ist, wollen die Jugendlichen noch etwas loswerden. „Wir sind sehr dankbar für diese Schule! Der Unterricht ist toll, und wir sind froh und stolz darauf, hier lernen zu dürfen“, sagt Kensia. „Eine Schule, die so gut ausgestattet ist, gibt es hier sonst nirgends. Was wir uns wünschen würden, wäre ein Labor, um in Physik und Chemie auch praktische Experimente zu machen“, ergänzt Patricia. Und zum ersten Mal in diesem langen Gespräch liegt keinerlei Besorgnis, sondern nur Begeisterung in ihren Stimmen.
Die Ordensgemeinschaft Petites Soeurs de Sainte-Thérèse de l’enfant Jésus betreibt in Carrefour, westlich von Port-au-Prince, die Saint Francois de Sales Schule. Bei dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 wurde sie komplett zerstört, 150 Kinder und zwei Lehrer kamen ums Leben. In einer von der Kindernothilfe finanzierten Notschule aus sechs Leichtbaupavillons besuchten 1.200 Kinder weiterhin den Unterricht. 2014 wurde das neue erdbeben- und hurrikansichere Schulgebäude eröffnet. Die BILD-Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder“ unterstützte das Projekt mit 1,6 Millionen Euro. Heute erhalten hier 1.300 Kinder und Jugendlichen zwischen fünf und 18 Jahren qualitativ guten Unterricht, eine warme Mahlzeit, und sie gestalten den Schulalltag aktiv mit.