Honduras: Der geplatzte Traum von einem besseren Leben
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch, Erika Harzer
Honduras hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Verantwortlich dafür sind vor allem gewalttätige Straßengangs und die Drogenkriminalität. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung sind arm. Seit 2018 versuchen Tausende von Menschen, in die USA zu flüchten. Die Reise ist lebensgefährlich, teuer – und meistens vergeblich. Abgeschoben in ihre Heimat stehen die Menschen vor dem Nichts.
Eine junge Frau sitzt in San Pedro Sula vor dem staatlich geführten Migrationszentrum auf dem Bürgersteig. Sie stillt ihr zweijähriges Kind und weint dabei bitterlich. Alles, was Saira bei sich hat, ist ihr Sohn und der Abschiebebescheid, den man ihr am Morgen in die Hand drückte, als man sie in Houston, Texas, in ein Flugzeug nach Honduras setzte. So endet eine Reise, die drei Wochen zuvor voller Hoffnung auf ein neues Leben begann. „Ich wollte zu meinem Mann. Er ging vor vier Monaten in die USA und hat dort einen Job gefunden. Nun sollten wir nachkommen, damit wir gemeinsam ein neues Leben beginnen können. Aber dieser Traum ist gestorben.“
Während die einen zurückgeschickt werden, formiert sich anderswo schon die nächste Karawane, die sich auf den Weg nach Norden macht. „Migrantinnen und Migranten sind unser wichtigstes Exportgut“, meint Dr. Elmer Villeda, Leiter des Kindernothilfebüros KNH-Honduras. Das mag zynisch klingen, aber es ist die Wahrheit. Schätzungsweise 1,5 Millionen der rund 10 Millionen-Bevölkerung leben im Ausland. Die Überweisungen von dort machen 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus und sind ein wichtigerer Wirtschaftsfaktor als Kaffee, Tabak und Palmöl. Die Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie in Honduras keine Zukunft sehen. Es gibt keine Arbeit, und die Kriminalität ist so hoch, dass es in vielen Stadtvierteln buchstäblich lebensgefährlich ist, dort zu bleiben. San Pedro Sula wird von Banden terrorisiert und hat eine der höchsten Mordraten der Welt.
"Niemand fragt die Kinder, ob sie mit der gefährlichen Reise einverstanden sind"
Doch die Reise in eine vermeintlich bessere Zukunft ist voller Gefahren. „Wir haben uns auf die Ladeflächen von Pickups und in Kofferräume gequetscht. Sind auf den Dächern von Lastwagen und in Anhängern gefahren, in denen wir kaum Luft bekamen. Und wir sind gelaufen. Stundenlang, tagelang, nächtelang.“ Saira erzählt, wie sie unterwegs um Essen bettelte und nachts an Straßenecken oder im Wald schlief. Die junge Mutter ist 24, sieht aber viel jünger aus, eine zierliche Frau, in der schier übermenschliche Kräfte schlummern müssen. „Ich habe meinen Sohn die ganze Zeit getragen. Auf dem Arm, auf dem Rücken, auf den Schultern. Nicht eine Sekunde habe ich ihn aus der Hand gegeben. Nicht eine!“, sagt sie, und drückt ihr Kind fest an sich.
Am schlimmsten war die Nacht, in der sie von den kriminellen Banden der mexikanischen Kartelle verfolgt wurden. „Wir rannten und rannten, und schließlich sah ich einen Müllcontainer, in dem ich mich verstecken konnte. Dort verbrachten wir zwischen schwarzen, stinkenden Säcken die Nacht. Ich hatte Glück. Eine andere Frau dagegen stolperte und verlor ihr Kind. Keiner weiß, was aus dem Mädchen geworden ist.“ Saira wusste vorher, was auf sie zukommen würde. Jeder in Honduras kennt jemanden, der versucht hat, die USA zu erreichen, und die Nachrichten sind voll mit den Geschichten von Entführungen und grauenhaften Unfällen völlig überfüllter Fahrzeuge. Trotzdem hat die junge Mutter keinen Moment gezögert, die Reise anzutreten. „Ich selbst war nur in der Grundschule und werde immer arm sein, denn es gibt hier keine Arbeit. Für mein Kind wollte ich eine bessere Zukunft.“
„Etwa ein Viertel derjenigen, die sich auf den Weg machen, haben Kinder dabei“, schätzt Elmer Villeda. „Oft sind die Väter vorgegangen, und die Mütter kommen mit den Kindern nach. Sie wissen, dass ihre Männer sonst in ihrem neuen Leben in den USA neue Familien gründen und sie vergessen.“ Er macht eine Pause und sagt dann etwas, was ihn schon lange beschäftigt. „Niemand fragt die Kinder, ob sie damit einverstanden sind, auf diese gefährliche Reise mitgenommen zu werden.“ Keines der Kinder, die wir treffen, weint oder jammert. Trotz langer Wartezeiten rennen sie nicht umher oder spielen. Alle klammern sich an ihre Eltern und wimmern höchstens dann einmal kurz auf, wenn sie für einen Moment abgesetzt werden. Carlos wird sich später nicht an seine Reise erinnern können. Doch die wochenlange Ungewissheit, die ständige Anspannung, die Angst und Verzweiflung der Mutter machen etwas mit einem Kind, ist Elmer Villeda überzeugt. „Diese Erfahrung gräbt sich in die Seele ein und kann zu tiefsitzenden Ängsten und einem lebenslangen Trauma führen.“
Schlechte Behandlung in den USA zur Abschreckung
Drei Wochen dauerte Sairas gefährlicher Weg in den Norden. „Zum Schluss setzten wir auf einem Floß über den Rio Grande über. Ich dachte schon, wir hätten es geschafft. Aber dann nahm uns die Grenzpolizei fest.“ Alles, was sie bei sich trug, wurde ihr abgenommen. Viel war es ohnehin nicht. Ein paar Wechselkleider, eine Handvoll Dollar, das Ladegerät ihres Handys, das sie wie durch ein Wunder behalten durfte und das nun nutzlos ist.
Elmer Villeda vermutet dahinter eine Politik der Abschreckung. „Die USA wollen, dass die Abgeschobenen zu Hause erzählen, dass es keine Chance auf eine Einwanderung gibt und dass sie schlecht behandelt werden, damit andere nicht nachkommen.“ Die Vereinigten Staaten profitieren zwar von dem ständigen Strom verzweifelter Migrantinnen und Migranten, die für kleines Geld und ohne groß nach ihren Rechten zu fragen all die Arbeiten erledigen, für die sich keine Einheimischen finden. In Hühnerfarmen und auf Schlachthöfen, bei der Ernte und als Reinigungskräfte. Doch inzwischen sind es zu viele Verzweifelte, die sich dem immer größer werdenden Exodus anschließen. Das Land schließt die letzten Schlupflöcher an den Grenzen, und anders als früher werden nun auch Familien mit kleinen Kindern ohne großes Aufheben abgeschoben.
Keine 24 Stunden, nachdem sie aufgegriffen wurde, war Saira wieder in Honduras. „Sie haben mir gesagt, alles werde gut, ich dürfe zu meinem Mann“, erzählt sie mit zitternder Stimme, am Ende ihrer Kräfte. Seit 25 Stunden ist sie unterwegs, ohne Schlaf, ohne zu essen, ohne zu trinken. Dass sie trotzdem noch ihr Kind stillen kann, grenzt an ein Wunder. „Gestern Abend haben sie uns aus dem Abschiebezentrum geholt. Wir wurden fotografiert, mussten Fingerabdrücke geben, einen Coronatest machen und warten. Wir warteten stundenlang auf einen Bus. Ich dachte, er bringt mich zu meinem Mann. Aber dann sah ich, dass wir am Flughafen ankamen. Da wusste ich, dass sie gelogen hatten und uns abschieben.“ Saira reicht ein Papier herüber. „Könnt ihr mir sagen, was in dem Bescheid steht? Es ist auf Englisch, und ich verstehe ihn nicht.“ Angeblich, so heißt es da, habe sie auf anwaltliche Unterstützung verzichtet. „Anwalt?” Saira lacht bitter auf, als sie das hört.
Die Rückkehrenden stehen vor dem Nichts
Saira und ihr Sohn sind zwei von 300 Personen, die allein an diesem Tag aus den USA nach Honduras abgeschoben wurden. Fast jeden Tag landen Maschinen auf den Flughäfen Mittelamerikas, vollbesetzt mit Menschen, deren Hoffnungen zerstört wurden, die in ihrer Heimat alles aufgaben, um ein besseres Leben zu finden, und die nun buchstäblich vor dem Nichts stehen.
In der fünf Meter hohen Mauer des Migrationszentrums öffnet sich eine stabile Metalltür und spuckt zwei junge Männer aus. Jeder hat ein kleines Kind auf dem Arm und den Beutel der UN-Flüchtlingsorganisation in der Hand. Die beiden alleinerziehenden Väter hatten sich gemeinsam auf die Reise gemacht. Weinend schließt der draußen wartende Ruben Portillo seinen Sohn in die Arme und schenkt seiner Enkelin Elvira zur Begrüßung eine Luftballonfigur. Einerseits ist er froh, die beiden zu sehen. Hätte es mit der Flucht geklappt, wäre er vermutlich auf Jahre von ihnen getrennt gewesen. Andererseits bedeutet die Abschiebung seines Sohnes den Ruin der Familie. 8.000 Dollar hat Cristian Portillo die Flucht gekostet, alle Ersparnisse der Familie, dazu Schulden bei Geldverleihern. Cristian wollte sie mit dem zurückzahlen, was er in den USA zu verdienen hoffte.
„Ich werde Arbeit suchen, meine Schulden bezahlen, Geld sparen und mich wieder auf den Weg machen“, sagt er. „Ich habe keine andere Wahl.“ Kopfschüttelnd schaut Cristian zu dem fröhlichen Bild hinüber, das auf die Mauer des Migrationszentrums gemalt ist. „Honduras te necesita – Honduras braucht dich“ ist darauf zu lesen. „Eine Lüge“, sagt er bitter. „Keiner braucht uns, weder hier, noch sonst wo. Keiner will uns.“
Proteste des Kindernothilfe-Partners zeigen Wirkung
Weiter als bis an die Mauer des Migrationszentrums reicht die Hilfe des Staates nicht. Wer durch die Metalltür nach draußen tritt, ist auf sich selbst gestellt. Als anerkannte Hilfsorganisation dürfen die CASM-Mitarbeitenden im Zentrum mit den Familien sprechen, um zu sehen, welche Hilfe sie brauchen. Sie organisieren den Kontakt zu Angehörigen und statten die Familien, die gar nichts mehr haben, mit Fahrgeld aus, sodass sie die Reise in ihr Heimatdorf antreten können. Der Bus, der vorher zur Grenze oder an den Flughafen fuhr, bringt nun die Geflüchteten zum Busbahnhof.
Berufliche Workshops können eine erneute Flucht verhindern
Saira hat den Bus verpasst. Die Dämmerung bricht schon herein, als wir sie weinend vor dem Migrationszentrum antreffen. Sie hat weder etwas zu essen noch den Beutel des UN-Flüchtlingswerkes bekommen. „Es gab irgendein organisatorisches Problem“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Sie hat nicht eine Lempira (honuduranische Währung) in der Tasche, ist ohne Kommunikationsmöglichkeit, hungrig, durstig, völlig erschöpft und ohne jede Hoffnung. Heute kommen Saira und Carlos auch mit Fahrgeld nicht mehr in ihr neun Busstunden entferntes Heimatdorf, das ist klar. Aber irgendwo in San Pedro Sula lebt eine Tante. Dort wäre sie sicher, könnte sich ausruhen und Kraft für die letzte Etappe ihrer Reise sammeln.
Zwei Stunden lang telefoniert der CASM-Mitarbeiter, um die Tante ausfindig zu machen. Am Treffpunkt am Busbahnhof verpassen wir sie. Also kurven wir auf der Suche nach der richtigen Gasse durch die inzwischen dunklen und gefährlichen Straßen San Pedro Sulas. Als wir die Tante schließlich gefunden haben, weint Saira vor Erleichterung. „Wir sind gerettet“, sagte sie zu ihrem Sohn. „Heute Nacht werden wir in einem richtigen Bett schlafen und sind sicher.“ Weiter in die Zukunft zu blicken, wagt sie nicht.