Kindernothilfe-Partner in Chile: seit 50 Jahren ein Fels in der Brandung
Text und Fotos: Jürgen Schübelin
Seit einem halben Jahrhundert engagiert sich die Kindernothilfe in Chile. Aus Briefen an die Pfarrer „in der Diaspora“ entwickelte sich ein erfolgreiches und strategisches Länderprogramm, das bis heute rund 100.000 Kinder nachhaltig unterstützt hat. Der Auslöser war eine Katastrophe.
Wie immer wieder in der Geschichte der Kindernothilfe war es eine entsetzliche Naturkatastrophe und nachfolgende humanitäre Krise, die am Anfang der Projektarbeit an einem neuen Ort, in diesem Fall 12.756 Kilometer von Duisburg entfernt, in einem neuen Land und sogar einem neuen Kontinent stand: Das Erdbeben von Valdivia vom 22. Mai 1960 mit der stärksten, jemals gemessenen Magnitude von 9,5 auf der Richter-Skala und dem anschließenden Tsunami hatte fast 1.700 Todesopfer gefordert, rund ein Viertel der Menschen in Chile obdachlos gemacht und die Topographie eines großen Teils der Küstenlandschaft in der betroffenen Region im äußersten Südwesten Lateinamerikas für immer verändert. Niels Koerner, den die EKD 1963 als Auslandspfarrer an die evangelisch-lutherische Gemeinde nach Valdivia entsandt hatte, erinnert sich noch viele Jahre danach an die Erschütterung und Bestürzung, die in ihm die Begegnung mit der extremen Armut in den Notquartieren, die für die Obdachlosen an der Peripherie von Valdivia aus dem Boden gestampft worden waren, ausgelöst hatte: „Mitten im chilenischen Winter mit seinem kalten Regen liefen die Kinder barfuß herum.“ Und noch ein Detail fiel dem Pastor aus Württemberg auf: Die vielen Mädchen und Jungen mit Brandwunden an Händen und im Gesicht; Spuren von Verletzungen durch braseros, Holzkohlebecken, mit denen die Familien versuchten, etwas Wärme in die aus Pressspan und Blechteilen gezimmerten Notunterkünfte zu bringen.
Im fernen Duisburg spielte indes im Verlauf des Jahres 1968 in den minutiös dokumentierten Beratungen des Kindernothilfe-Vorstands das Anliegen, sich ein Jahrzehnt nach der Gründung des Werkes neben Asien und dem englischsprachigen östlichen Afrika jetzt auch in Lateinamerika zu engagieren, eine immer größere Rolle. Der ehemalige Missionar und frühere Bischof der indischen Diözese Nord-Kerala, Richard Lipp, damals Vorsitzender der Kindernothilfe, präsentierte auf der Kindernothilfe-Mitgliederversammlung im Frühjahr 1969 den Plan, konsequent auf dem Subkontinent nach geeigneten Partnern für Patenschaftsprojekte zu suchen. Unter anderem hatten das Kirchliche Außenamt der EKD – aber auch verschiedene Missionswerke, mit denen sich Kindernothilfe eng verbunden fühlte – die schnell wachsende Organisation aus Duisburg-Buchholz immer massiver gedrängt, Lateinamerika mit seinen dramatischen sozialen Problemen, den im Gefolge hunderttausendfacher Armutsmigration vom Land in die Stadt wuchernden Elendsgürteln rund um die großen Metropolen, seinen sich gefährlich zuspitzenden politischen Konflikten – aber auch gewaltigen Umwälzungen und Herausforderungen in den christlichen Kirchen – als neues Arbeitsfeld ins Auge zu fassen.
Das erste Projekt in Lateinamerika 1969: Der Hogar Luterano
Und dann ging es relativ schnell: Nicht einmal zwei Jahre nach dem bescheidenen Auftakt 1969 mit dem Hogar Luterano in Valdivia förderte die Kindernothilfe bereits acht chilenische Projekte mit über 500 Patenschaften, die meisten in Kooperation mit der methodistischen Kirche. Nach und nach wurde aber auch deutlich, dass der Arbeitsbeginn auf einem „neuen“ Kontinent mit komplexen Herausforderungen verbunden war: Niemand bei der Kindernothilfe in Duisburg sprach damals Spanisch, geschweige denn Portugiesisch. Angewiesen war man auf deutschsprechende Kontakt- und Vertrauenspersonen vor Ort, die die Kommunikation mit den Projekten organisierten. Hinzukamen noch ganz andere Schwierigkeiten: An dem Unterstützungsantrag der Fundación Mi Casa aus Santiago de Chile entzündeten sich 1971 wochenlange heftige Diskussionen im Kindernothilfe-Vorstand. Das Problem: Diese Institution wurde damals von einem katholischen Priester geleitet. Erst ein salomonischer Vorschlag von Bischof Lipp brachte den Durchbruch: Der Vorstand erbat die Statuten des potenziellen Partners, ließ sie übersetzen, um zu prüfen, ob es eine ausreichend tragfähige gemeinsame theologische Basis für eine Kooperation gab. Das Eis trug: Am Ende entschied man sich in Duisburg, dem neuen Partner einfach zu vertrauen.
Das Arbeitsprinzip war dabei immer das Gleiche: Unterstützt wurden Initiativen – vor allem von Müttern, die unter dem institutionellen Dach von Kirchengemeinden unterschiedlichster Denominationen in Armenvierteln am Rand der Städte improvisierte Kindergärten und Kindertagesstätten ins Leben riefen. Hildegard Arbogast von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile, die sich bis heute im ehrenamtlichen Vorstand des Kindernothilfe-Partners Fundación ANIDE in Chile engagiert, erinnert sich ganz genau an diese Anfänge: „Das waren zu allererst selbstverwaltete Projekte von Frauen in den campamentos, den Notsiedlungen, die, um in diesen Hungerjahren etwas Geld zu verdienen, anderen, arbeitenden Müttern anboten, tagsüber ihre Kinder zu versorgen und zu betreuen. Alles war ganz einfach, sehr improvisiert und sehr prekär.“
Eine radikale Zäsur – auch für die Kindernothilfe-Arbeit: der Pinochet-Putsch
Das Engagement in den Armenvierteln hatte aber auch Auswirkungen auf die kirchlichen Träger und ökumenischen Partner der Kindernothilfe, die sich in vielen Konfliktsituationen mit dem Regime - vor allem dann, wenn es um schwere Menschenrechtsverletzungen ging, mutig vor die Kinder und ihre Familien, aber auch die Mitarbeitenden in den Projekten stellten. Den ersten organisatorischen Rahmen für die Begleitung der aus Duisburg unterstützten Projekte bildete seit den frühen siebziger Jahren das Programa de Menores unter dem Dach der von dem evangelisch-lutherischen Pastor Helmut Frenz - dem späteren deutschen Amnesty International-Generalsekretär - gegründeten ökumenischen Netzwerk Diaconía, das zu einer der wichtigsten Unterstützungsplattformen für die internationale Humanitäre Hilfe nach dem Pinochet-Putsch werden sollte.
Neue Themen und komplexere Herausforderungen
Mit dem Ende des Militärregimes 1990 – aber vor allem seit der Jahrtausendwende – fuhr die Kindernothilfe ihr finanzielles Engagement in Chile nach und nach zurück, verlängerte Kooperationen mit Partnern nach Ende der Projektlaufzeiten nicht mehr – und entschied, die freiwerden Mittel vor allem in den drei ärmsten Ländern Lateinamerikas Haiti, Honduras und Guatemala einzusetzen. Doch anders als die meisten anderen Entwicklungswerke in Europa wird die Kindernothilfe auch in den kommenden Jahren weiter mit einem – wenn auch kompakten, aber strategisch fokussierten – Länderprogramm in Chile engagiert bleiben – und zwar in einer Gemeinschaftsanstrengung mit der Kindernothilfe Österreich, die seit 2012 Projekte im Land fördert.
Seit dem Jahr 2000 nennt sich die ökumenische Kindernothilfe-Partnerstruktur in Chile Fundación de Beneficencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida - ANIDE. Ihr Direktor José Horacio Wood und die Programmkoordinatorin von ANIDE, Claudia Vera, haben ausgerechnet, dass seit 1969 rund 100.000 Kinder und Jugendliche an den von Kindernothilfe unterstützten Projekten in Chile beteiligt waren und in diesen fünf Jahrzehnten von Kindernothilfe-Patinnen und -Paten, Spenderinnen und Spendern um die 60 Millionen Euro aufgebracht wurden – unter anderem auch zur Finanzierung von aufwändigen Humanitäre-Hilfe-Projekten nach großen Katastrophen wie dem verheerenden Erdbeben vom 27. Februar 2010 oder dem Großbrand in Valparaíso vom 12. April 2014.
Das Engagement für die Kinderrechte ist unverzichtbar
Den Ort, an dem 1969 die Kindernothilfe-Arbeit in Lateinamerika begann, den Hogar Luterano de Valdivia gibt es indes immer noch: 130 Mädchen und Jungen im Alter zwischen 2 und 14 Jahren werden heute in diesem Projekt betreut – finanziert in einer eindrucksvollen Gemeinschaftsanstrengung der lutherischen Gemeinde von Valdivia, der Eltern, einer Reihe lokaler Spenderinnen und Spender, von Freunden aus Deutschland wie der „Kinderhilfe Chile“ aus Hamburg und dem Kirchlichen Entwicklungsdienst der Nordkirche, sowie – hart erkämpft – des staatlichen chilenischen Kindergartenverbandes.
Weiterführende Informationen
Das online-Portal focosocial aus Santiago berichtete im November 2018 ausführlich über den Festakt zur Erinnerung an den Beginn des Kindernothilfe-Engagements in Chile vor 50 Jahren:
Die ANIDE-Festschrift aus Anlass der 50 Jahre Kindernothilfe-Engagement ist als PDF verfügbar.