Peru: Von Selbstvertrauen und Kinderrechten
Text und Fotos: Lorenz Töpperwien / © Kindernothilfe
Die wuchernden Vororte von Lima sind nicht für Kinder gemacht. Fließend Wasser, Grünflächen, Spielplätze? Fehlanzeige. Viele Kinder müssen arbeiten, und an den Schulen ist vor allem Mobbing ein Problem. Genau da setzt der peruanische Kindernothilfe-Partner IFEJANT an: An zwei Schulen unterstützt er Teams, die zum Beispiel einen eigenen Schulkiosk betreiben oder für ein faires Miteinander eintreten. Dadurch übernehmen sie Verantwortung, entwickeln Selbstbewusstsein und üben sie schon mal für ihr späteres Berufsleben. Obendrein erfahren sie viel über Kinderrechte. Die beiden YouTuber Shanti Tan und Dillan White fanden das so spannend, dass sie sich vor Ort selbst ein Bild gemacht haben.
Meylin zählt Geld in die Tageskasse. Routiniert sortiert sie die unterschiedlichen Münzen und trägt die Summe in das Kassenbuch ein. Die Arbeit im Kiosk der Schule San José Obrero macht ihr großen Spaß. Hier gibt es Eis, Süßigkeiten, gekühlte Getränke – alles, was Kinder mögen. Entsprechend groß ist der Andrang in den Pausen. Ein- bis zweimal die Woche steht Meylin zusammen mit anderen Schülern hinter dem Tresen, bedient die ungeduldige und ziemlich laute Kundschaft und räumt hinterher alles auf. Auch „Buchhaltung“ gehört zu ihren Jobs.Heute macht sie den Kassensturz zusammen mit Shanti Tan, der sie genau erklärt, was sie zu tun hat. Die YouTuberin war mit der Kindernothilfe schon auf Projektbesuch in Südafrika. Jetzt, in Limas Armenviertel Santa Maria del Triunfo, trifft sie auf lauter selbstbewusste Kinder wie Meylin, die sie aufnehmen wie eine große Schwester. Und die ihr begeistert vorführen, was sie alles können.
Für Kiara ist Kinderarbeit selbstverständlich
Santa Maria del Triunfo ist einer jener Vororte, die Limas größtes Dilemma verraten: Die peruanische Hauptstadt platzt aus allen Nähten. Wie ein Magnet zieht die 10-Millionen-Metropole arme Familien aus dem Andenhochland an. Dort oben, im rauen Klima der Berge, gerät Feldarbeit schnell zum Überlebenskampf. Jeder muss mit anpacken, die Arbeit ist hart, auch die Kinder werden nicht geschont. Immer mehr Menschen versuchen deshalb ihr Glück in Lima – und treffen dort auf knappen Wohnraum und hohe Lebenshaltungskosten. Geregelte Arbeit gibt es kaum, also halten sich die Zuwanderer mit informellen Jobs über Wasser, die wenig Geld einbringen. „Alltag für über 70 Prozent der Hauptstadtbevölkerung“, erklärt Elvira Figueira, Projektleiterin bei IFEJANT.
Bei den Eltern der Kinder, die sie betreut, sieht das nicht anders aus. Einige sind als Händler erfolgreich und können sich in Einzelfällen sogar einen gebrauchten Lastwagen leisten, mit dem sie Bauholz oder andere Güter transportieren. Die meisten jedoch verkaufen ihre Ware auf der Straße oder auf dem Markt, oder sie gehören zu dem Heer der Tuktuk-Fahrer, die mit ihren meist klapprigen Gefährten Passagiere gegen kleines Geld von A nach B befördern.
Von den Kindern wird erwartet, dass sie mithelfen. Für die elfjährige Kiara ist das ganz selbstverständlich. Ihre Mutter steht täglich um Mitternacht auf, fährt eine Stunde mit dem Bus zum Großmarkt von Lima, kauft dort Gemüse, lässt es per Lastentaxi zu ihrem kleinen Marktstand schaffen, was wieder eine Stunde dauert, richtet dort alles her und hat mit etwas Glück um fünf Uhr morgens ihre ersten Kunden. Mittags um eins oder zwei ist sie wieder zu Hause. Damit verdient sie 80 Soles, das sind etwas mehr als 20 Euro. Kiara hilft an den Wochenenden, von fünf Uhr früh bis zwölf Uhr mittags verkauft sie Mais und anderes Gemüse. Auf diese Weise spart die Familie 30 Soles – das ist der Tagessatz für eine Aushilfskraft
Maria schämt sich nicht für ihre Arbeit
Kiara trägt ihren Teil zum Familieneinkommen bei. Trotzdem legt ihre Mutter großen Wert darauf, dass sie zur Schule geht und am Wochenende genug Zeit für ihre Hausaufgaben hat. Dasselbe gilt für Maria. Sie kam schon einmal in einer Reportage des Kindernothilfe-Magazins vor, vor zwei Jahren. Mittlerweile besucht sie die Mittelschule. Nach dem Unterricht geht sie täglich für eine Stunde zum Straßenstand ihrer Großmutter und verkauft Süßigkeiten. Das Geld, das sie dabei verdient, spart sie – zum Beispiel, um damit das Studium ihrer Schwester zu unterstützen.
„Ich schäme mich nicht dafür, dass ich arbeiten muss“, sagt sie bestimmt – dank IFEJANT. Seit Jahren kämpft der Kindernothilfe-Partner in Peru gegen ausbeuterische Kinderarbeit. Zugleich vermittelt er den Kindern und Jugendlichen Fertigkeiten, die ihnen den Zugang zu sicheren Jobs erleichtern. Dabei verfolgt er einen praktischen Ansatz. Zum Beispiel lernen die Kinder, gemeinsam einen Kuchen zu backen – vom Erwerb der Zutaten auf dem Markt über die Preiskalkulation bis zum Verkauf des fertigen Produkts vor dem Elternhaus oder der Schule.
Die Erfahrungen, die sie dabei sammeln, ermutigen sie, Neues auszuprobieren. Dabei ist es IFEJANT wichtig, dass die Kinder selbst entscheiden, was sie in ihren Schulprojekten machen. „Durch die gemeinsame Arbeit habe ich viel Selbstvertrauen gewonnen“, erinnert sich Maria. Wenn sie groß ist, will sie gerne Polizistin werden. Ob sie keine Angst vor Verbrechern habe? „Mir wird schon nichts passieren!“, sagt sie lächelnd.
Oscar will einmal Sänger werden
Am entgegengesetzten Ende von Lima, in Puente Piedra, besucht Dillan White ein ganz ähnliches Schulprojekt von IFEJANT. Sobald er in der Grundschule José Antonio Encinas auftaucht, wird er von Kindern umschwärmt – sie wollen unbedingt seine Haare berühren. Er lässt es bereitwillig geschehen. Später lädt ihn der elfjährige Oscar zu sich nach Hause ein. Der Junge ist sehr klein für sein Alter und ein ziemlicher Wirbelwind. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter verdient ihr Geld als Sängerin peruanischer Volkslieder. Zusammen mit Oscars kleinem Bruder bewohnt die Familie ein kleines, sauberes Häuschen an den staubigen Hängen der Vorstadt.
Jedes Wochenende nimmt die Mutter Oscar zu ihren Gesangsauftritten mit. Oft fängt er dann ganz unvermittelt an zu tanzen. Das berührt manche Zuschauer so sehr, dass sie ihm Geld zustecken. Auf diese Weise hat er schon 170 Soles verdient, etwa 45 Euro. Einen Teil davon hat sich die Mutter als Kredit ausgeliehen, um Schulhefte und Stifte zu kaufen. Da war gerade das Geld knapp, weil der Vater seinen Wochenlohn nicht rechtzeitig bekam. Für Dillan holt Oscar einen Radiorecorder hervor und singt mit erstaunlich sicherer Stimme die Lieder, die er von seiner Mutter kennt. Die ist sichtlich stolz auf ihn. Eines Tages will er in ihre Fußstapfen treten und selbst Sänger werden, aber bis dahin dauert es noch ein bisschen.
Mobbing und Gewalt? Ohne uns!
Die halbe Stunde Fußweg zur Schule macht ihm nichts aus, er hüpft die Treppen hinauf und hinab wie ein Gummiball. Seine schier unerschöpfliche Energie fließt neuerdings auch in ein Projekt, das IFEJANT vergangenes Jahr startete. Die Idee dazu kam von den Schülern selbst. Ihr Ziel: Schluss mit dem allgegenwärtigen Mobbing. Das äußert sich in Peru meist in Form von massiver sozialer Ausgrenzung und macht auch an Oscars Schule vielen Kindern das Leben schwer.
Oscar ist eines von rund 90 Kindern, die sich in festen Gruppen treffen und neue Mobbingfälle besprechen. Dafür opfern er und seine Mitstreiter täglich einen Teil ihrer Pausenzeit. Heute allerdings ist das anders: Die alljährliche Info-Kampagne steht bevor, deshalb hat der Schuldirektor den Kindern erlaubt, sich während des Unterrichts zu treffen. Sie bereiten Plakate vor, die sie an die Wände der Schulflure hängen. Dann ziehen sie durch die Klassen, stellen sich und ihre Arbeit vor und ermutigen ihre Mitschüler, sie anzusprechen, wenn sie Mobbing in ihrer Klasse erleben oder selbst zur Zielscheibe von Gewalt werden.
DESNNA nennt sich das Projekt: Defensoria Escolar del Niño, Niña y Adolescentes – Schutz für Schülerinnen und Schüler. Eine ganz wichtige Rolle dabei spielt der „Buzon DESNNAs“. Das ist eine Art Kummerkasten, in dem Kinder Mobbingfälle anonym melden können. Dafür suchen die verschiedenen DESNNA-Teams dann Lösungen, die sie einmal in der Woche mit ihren Betreuern von IFEJANT abstimmen. In besonders schweren Fällen ziehen sie auch die beiden Vertrauenslehrer der Schule hinzu.
Mit viel Elan malen die Schülerteams an ihren Plakaten. Sie leisten großartige Arbeit, lobt Elvira Figueira. Durch ihre Initiative wird das Thema Mobbing an ihrer Schule nicht mehr totgeschwiegen, sondern aktiv bekämpft. Wichtig ist auch, dass sie ihre Mitschüler ganz gezielt über Kinderrechte aufklären und Vorbilder für ein gewaltloses Miteinander sind. Das finden auch die Eltern prima. „Gewalt“, sagt eine Mutter, „ist in Peru ein großes Problem. In den Mobbinggruppen lernt meine Tochter, sich dagegen zu wappnen.“
Die Schulbäcker von Santa Maria del Triunfo
Unser Lieblingsgebäck? „Natürlich Schokotorte“, sagen die Kinder wie aus einem Mund. Aber das, was sie hier backen, wollen sie verkaufen, deshalb brauchen sie mehr Abwechslung im Speiseplan. Heute steht deshalb Carlota de Fresa auf dem Programm, eine leckere Erdbeer-Creme mit Kekseinlage. Diesen Nachtisch haben sie sich selbst ausgesucht. So machen sie es immer: Die Lehrerin schlägt ein paar Desserts vor, die Kinder treffen gemeinsam eine Wahl, und schon geht’s los.
Die Schulbäckerei in Limas Armenviertel Santa Maria del Triunfo ist ein Projekt des Kindernothilfe-Partners IFEJANT. Die Kinder lernen hier viel mehr als Kuchen zu backen und Desserts zu kreieren. Allein die Einkaufsliste ist eine Herausforderung. Welche Zutaten brauchen wir, um zum Beispiel 100 Becher Carlota de Fresa zu erhalten? Wie viel kostet uns das? Was können wir daran verdienen? Warenliste, Kalkulation, das Ausrechnen von Einkaufs- und Verkaufspreis – all das gehört ganz selbst-verständlich zu den Aufgaben der Schüler in der Schulbäckerei. Nur den Einkauf nimmt ihnen IFEJANT ab.
Das Backen ist dann wieder Gemeinschaftsaufgabe – in Kittel und Kochmütze natürlich, wie es sich gehört. Jeder hat hier seine Aufgabe, auch das Aufräumen am Schluss gehört dazu. Da kommen leicht zwei Stunden zusammen, und das ist noch nicht alles: Die Carlota de Fresa muss frisch verkauft werden, sonst wird sie schlecht. Also ziehen die Kinder danach in Gruppen los und bringen das Dessert unter die Leute. Mittlerweile sind sie in der Nachbarschaft der Schule schon bekannt, auch deshalb, weil sie offensichtlich so großen Spaß haben.
„Verkaufen ist wunderbar“, finden Meylin und Camila. Der Erlös fließt zurück in die Bäckerei, aber als besonderen Anreiz erhalten die Kinder am Jahresende einen kleinen Anteil für sich. Meylin hat sich damit einen Traum erfüllt: ein eigenes Bett. Jetzt muss sie sich nicht mehr mit der Mutter ein Bett teilen. Das übrig gebliebene Geld hat sie für später zurückgelegt.
Für die Kinder ist die Schulbäckerei ein großes Glück: Sie lernen viele praktische Dinge und tanken jede Menge Selbstbewusstsein. Camila erzählt, wie sie einmal außerhalb der Schule einer Gruppe von Frauen beibringen sollten, Pizza zu backen. Erst hatten sie Angst, aber dann haben sie sich extra fein gemacht und sind hingegangen. Und die Frauen? Waren überrascht, wie gut die Kinder ihnen alles erklärten, ganz ohne die Hilfe von Erwachsenen. Am Ende waren alle mehr als zufrieden.