Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Niklas Alof, Leitung Kinderrechte und Sport der Kindernothilfe, spricht im Interview mit dem Weser Kurier über Kinderschutz im Sport
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"Die Täter verschieben die Grenzen"

Text: Jean-Julien Beer (WESER KURIER) Bilder: Kindernothilfe

Niklas Alof (40) ist seit mehr als zehn Jahren bei der Kindernothilfe und dort als Leitung für Kinderrechte im Sport aktiv. Er begleitet Vereine und Verbände beim Kinderschutz.

 

Herr Alof, Sie haben beim SV Werder das Kinderschutzprogramm mit entwickelt, das kürzlich Alarm schlug. Nach mehreren Meldungen von Familien und Mitarbeitern hat sich der Verein von einem Jugendkoordinator im Leistungshandball getrennt. Sind Sie zufrieden, dass das Konzept funktioniert hat?

Niklas Alof: Zufrieden ist in dem Zusammenhang natürlich ein schwieriger Begriff. Aber ich finde es gut, dass sich Werder so intensiv um diese Themen kümmert. Grundsätzlich ist es wichtig, wenn sich ein Verein in der Praxis konsequent darum bemüht, die eigenen Regeln durchzusetzen. Wenn die nämlich keine Wirkung haben und ignoriert werden, dann wäre ein Kinderschutzprogramm das Papier nicht wert, auf dem es steht. Denn die Erfahrung zeigt: Je besser das Kinderschutzkonzept funktioniert, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Betroffene trauen, Fälle zu melden.

Was den Vereinen im ersten Moment sicherlich unangenehm ist…

So ist es. Auf der einen Seite wollen die Vereine ungern Öffentlichkeit haben in solchen Fällen, das ist ja auch verständlich. Gleichzeitig ist es sehr wichtig, auch für die Vereine selbst, diese Fälle konsequent anzugehen. Ich werde immer stutzig, wenn mir Menschen aus Vereinen sagen: Bei uns passiert nichts, wir brauchen kein Kinderschutzprogramm. Es kann ja sein, dass es solche Vereine gibt. Aber wie wollen die das wissen, wenn es dort kein ernsthaftes System gibt, um das zu prüfen?

Die Kindernothilfe kennt man als weltagierende Organisation. Warum ist es für Sie wichtig, auch bei uns in Deutschland, in den Sportvereinen, die Probleme von Kindern wahrzunehmen?

Die Kindernothilfe 65 Jahren, und in der Tat ist die Organisation vor allem durch die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern in Afrika, Lateinamerika oder Asien bekannt geworden. In Deutschland sind wir erst seit 2016 aktiv, als viele Geflüchtete hierher kamen. Damals wurden wir angefragt, ob wir durch unsere weltweite
Erfahrung im Kinderschutz helfen können. Kinderrechte sollten global Gültigkeit haben, und so haben wir auch in Deutschland mit der Beratung angefangen.
Nach und nach gab es immer mehr Anfragen aus dem Sport, ob wir den Vereinen und Verbänden helfen können, den Kinderschutz stärker in den Blick zu nehmen. Darum kümmern wir uns seit 2018 sehr intensiv. Denn in Deutschland treiben mehr als sieben Millionen Kinder und Jugendliche Sport – das ist ungefähr die Hälfte aller Kids.

Oft gehen die Meinungen auseinander, ob Vorfälle gravierend genug sind, um sie zu melden. Das war auch bei Werder so, wo es um fehlende körperliche Distanz des Jugendtrainers ging und um eine verstörende, sexualisierte Sprache. Was raten Sie: Ab wann ist ein Vorfall ernst zu nehmen?

Immer dann, wenn Menschen sich melden, weil ihre Grenzen überschritten wurden. Natürlich ist nicht jeder Fall gleich schwer. Aber nur wenn man ihn ernst nimmt, kann man entscheiden, wie man damit umgeht. Wenn wir mit einem Sportverein ein Kinderschutzkonzept entwickeln, ist ein Verhaltenskodex dabei immer das zentrale Element. Wenn man die Regeln für den Umgang miteinander einmal festgelegt hat, müssen die auch für alle gelten.

Wann ist das Verhalten eines Trainers oder Betreuers eine Grenzüberschreitung?


Das ist unterschiedlich, weil das Empfinden jedes Menschen anders ist. Wir werden niemals allen Empfindungen gerecht werden können. Aber wir können uns ein genaueres Bild verschaffen, indem wir nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche einbeziehen, um ein Kinderschutzkonzept zu entwickeln. Natürlich gibt es Grenzen, die keinen Millimeter verschoben werden dürfen. Aber viele Vorfälle oder Probleme spielen sich unterhalb einer Grenze ab, bei der es strafrechtlich relevant wäre. Übrigens können sich auch Trainer, Trainerinnen oder Betreuer schützen, indem sie mit ihren Sportlern darüber reden, wie man im Alltag den Umgang miteinander regelt. Es gibt Sportarten, die sind besonders hilfestellungsintensiv, etwa das Turnen, andere Sportarten sind das weniger. Eine transparente Kommunikation über die eigenen Grenzen und über das eigene Handeln ist da sehr hilfreich.

Warum ist es wichtig, auch Distanzlosigkeiten oder Grenzüberschreitungen unterhalb der strafrechtlichen Schwelle nicht als harmlosen Quatsch abzutun?

Das ist ein sehr zentraler Punkt. Wenn im Verein ein Verhaltenskodex erarbeitet wurde, der alle schützen soll – dann ist es enorm wichtig, diese Regeln im Alltag auch durchzusetzen. Denn sonst entsteht ein Klima, in dem Leute sagen: Wenn ich das hier machen kann, und mir passiert nichts, dann mache ich einfach, was ich will. Das wollen wir natürlich verhindern. Die Täter verschieben ganz systematisch Grenzempfindungen von betroffenen Personen, sie verschieben die Grenzen. Sie suggerieren den Opfern damit, dass Dinge normal sind, die eigentlich nicht normal sein dürfen. Das gilt auch für sexualisierte Gewalt. Das ist oft kein affektives Handeln, das aus einer Kurzschlussreaktion heraus passiert.

Das heißt, die Täter verschaffen sich zunächst einmal ein passendes Umfeld?

Täterinnen und Täter handeln strategisch. Das ist ein Prozess. Sie versuchen, die Wahrnehmung der Betroffenen zu verändern. Sie versuchen, die körperliche Distanz zu verringern. Sie versuchen auch, diese Personen zu isolieren. Und das alles beginnt nicht mit einem total offensichtlichen Fehlverhalten, sondern es ist ein Verhalten, das sich über längere Zeit aufbaut. Man kann das stoppen, indem man als Verein auch kleinere Fälle von Distanzlosigkeiten und Ähnlichem sofort ernst nimmt und bespricht. Es geht gar nicht unbedingt um krasse Fälle, wie wir ihn zuletzt bei Werder erlebten. Sondern es geht darum, die Kultur des Hinsehens mit Leben zu füllen.

Wie können Eltern am Verhalten der Kinder merken, dass im Sportverein oder im Umgang mit dem Trainer etwas nicht stimmt?

Wir wissen aus Studien, dass Kinder und Jugendliche sieben bis acht Anläufe brauchen, um gegenüber Erwachsenen von ihren Gewalterfahrungen zu berichten,
bis ihnen dann tatsächlich geholfen wird. Diese Erwachsenen können Eltern sein, andere Familienmitglieder, Trainerinnen oder Trainer oder Lehrerkräfte, das spielt keine Rolle. Die meisten Erwachsenen helfen nicht etwa deshalb nicht, weil sie das nicht wollen – sondern weil sie mit der Situation überfordert sind oder die Ernsthaftigkeit des Problems verkennen. Manchmal verstehen sie auch die Ausdrucksweise der Kinder und Jugendlichen nicht. Andere wollen einfach nicht wahrhaben, was da los ist. Die Anzeichen von Gewalt können sehr unterschiedlich sein. Manche Kinder ziehen sich zurück, andere werden aggressiver, manche sprechen plötzlich eine sehr sexualisierte Sprache. Was immer hilft, ist im Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen zu bleiben, auch wenn das gerade in der Pubertät nicht immer einfach ist.

Sind die eigenen Eltern immer der beste, erste Ansprechpartner für betroffene Kinder und Jugendliche?

Das kommt auf die Situation an – und zwar auch auf die Situation außerhalb des Sportvereins. Wir wissen aus Kriminalstatistiken, dass die meiste Gewalt
im familiären Umfeld stattfindet. Deshalb ist diese Frage so pauschal schwer zu beantworten. Nur wenn man ein vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Eltern hat, ist das die beste Lösung. Es kommt auch vor, dass die Probleme zu Hause liegen – und dann sind der Trainer oder die Trainerin im Verein die Vertrauensperson. Sportvereine sind oft ein Familienersatz, dadurch können enge Vertrauensverhältnisse entstehen. Grundsätzlich sind Vertrauenslehrer oder Vertrauenslehrerinnen und Kinderschutzbeauftragte immer gute Ansprechpersonen.

Trainer haben die Macht. Sie entscheiden, wer spielt. Da kann sich ein Kind schnell machtlos fühlen. Ist der Sport dadurch ein besonders schwieriges Umfeld?

Absolut. Die Trainer entscheiden, wer am Wochenende spielt oder wer vielleicht auch den nächsten Schritt in der Laufbahn macht. Dazu kommen die besondere körperliche Nähe im Sport und die Emotionen, zu denen auch die Erwartungen von ambitionierten Eltern zählen. Da kann es schnell passieren, dass sich Kinder machtlos fühlen. Deshalb ist es wichtig, unabhängige Ansprechpersonen außerhalb der Mannschaft zu haben. Untersuchungen der Sporthochschule Köln zeigen übrigens: Wenn sich Kinder und Jugendliche im Verein geschützt fühlen, bringen sie auf längere Sicht bessere Leistungen. Ein schützendes Klima innerhalb des Vereins kann sich also sehr positiv auswirken. 

Mannschaften oder Vereine sind schnell überfordert, wenn es Vorfälle gibt. Was raten Sie denen?

Es ist total wichtig, sich für solche Fälle gut zu vernetzen. Wir sind vor allem in der Prävention tätig und helfen, Schutzkonzepte zu entwickeln. Und dann bringen wir die Vereine dazu, ob in Bremen oder woanders, sich lokal die Kontakte der Beratungsstellen zu verschaffen und dort die Ansprechpartner und Hilfsangebote persönlich kennenzulernen. Größere Vereine haben häufig auch Juristen oder Juristinnen, die beraten können. Und dann gibt es natürlich noch die Polizei. Auch die kann beraten.
Grundsätzlich sollten alle Eltern froh sein, wenn sich ein Verein mit dem Thema Kinderschutz beschäftigt. Denn damit stellt der Verein das Wohl des Kindes in den Vordergrund.

Ist der Jugend-Leistungssport besonders anfällig für Machtmissbrauch und Grenzüberschreitung? Dort gibt es schließlich nicht nur hoffnungsvolle Talente, sondern auch ehrgeizige Eltern und den Traum von einer großen Karriere...

Ja, das muss man so sagen. Studien belegen das: Je höher das Leistungsniveau, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Gewaltaufkommen. Das hat mit
Machtmissbrauch zu tun und mit den großen Träumen von jungen Sportlerinnen und Sportlern und deren Familien. Ich bin Fußballer in einem Leistungszentrum
und mein großer Traum ist es, Profi zu werden. Oder ich bin Turnerin und möchte unbedingt bei den Olympischen Spielen dabei sein. Dann bin ich gegebenenfalls bereit, Dinge zu tun, die eigentlich nicht sein dürfen. Das ist im Leistungssport nochmal anders als in einem kleineren Verein. Zudem verbringt man viel mehr Zeit miteinander, man hat einen noch engeren Kontakt. Wenn man auf das Gebiet der emotionalen Gewalt oder des psychischen Drucks schaut, dann ist das im Leistungssport besonders ausgeprägt.

Werders Präsident Hubertus Hess-Grunewald will die Kultur des Hinsehens im Verein etablieren. Haben die Vereine, und hier vor allem Sportvereine, zu lange weggeschaut?

Ich glaube, der Sport ist da aktuell auf einem extrem guten Weg. Das Thema Gewaltprävention ist sehr viel präsenter geworden, auch im Deutschen Olympischen
Sportbund, in den Landessportbünden oder in den Fußballverbänden. Gleichzeitig haben wir natürlich um die 80.000 Sportvereine in Deutschland – und bis das bei denen ankommt, ist das ein weiter Weg. Wir kommen aber immer mehr zu dieser Kultur des Hinsehens und Handelns. Aber da ist auch noch einiges zu tun.

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Niklas Alof

Portraitfoto von Niklas Alof (Quelle: Christian Herrmanny)
Niklas Alof
ist seit mehr als zehn Jahren bei der Kindernothilfe und Leitung für Kinderrechte im Sport. 

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