Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Äthiopien: Vom Patenkind zur Ingenieurin, Dozentin, Ausbilderin, Researcherin und Doktorandin

Text: Gunhild Aiyub, Bilder: privat und Ludwig Grunewald/Kindernothilfe

Ungewöhnlicher Besuch in der Kindernothilfe-Geschäftsstelle: Eden Ollo aus Äthiopien ist gekommen. Sie ist nicht die erste Äthiopierin hier im Haus. Aber sie ist das erste ehemalige äthiopische Patenkind, und sie ist hier, weil sie Danke sagen will. Danke für die jahrelange Unterstützung der Kindernothilfe und ihrer Patin, durch die sie das geworden ist, was sie heute ist: Ingenieurin, Dozentin, Forscherin, Ausbilderin und kurz davor, zu promovieren. Ihre Heimat ist eines der ärmsten Länder der Welt. Wenn es um Äthiopien geht, bestimmen die Themen Dürre, Klimawandel, Hunger und Bürgerkrieg die Schlagzeilen in unseren Medien. Eden erzählt uns eine Hoffnungsgeschichte aus ihrem Leben. Und was kann es Überzeugenderes dafür geben, dass unsere Arbeit wirkt, als das Zeugnis eines früheren Patenkindes? 

Eden Ollo kommt aus Gießen, wo sie an einem dreimonatigen Vorbereitungskurs für ihre Promotion teilgenommen hat. Den Kontakt zur Uni und zum Dozenten hatte die Tochter ihrer Patin hergestellt. Die Unterstützung dieser Patin zieht sich wie ein roter Faden durch fast ihr ganzes Leben. „Ohne sie und die Kindernothilfe wäre mein Leben anders verlaufen“, sagt die 34-Jährige, „ohne sie wäre ich heute nicht hier!“

Ihre Kindheitsgeschichte ist traurig, eine Geschichte, wie wir sie bei der Kindernothilfe aus unzähligen Berichten oder von Projektbesuchen kennen. Aber dass ein Mädchen aus einem Projekt uns als Erwachsene im Büro gegenübersitzt und aus seinem Leben erzählt, ist für uns alle etwas Besonderes. Wir bombardieren sie mit Fragen: „Wie bist du ins Kindernothilfe-Projekt gekommen und warum? In welcher Situation war deine Familie? Wie fandest du es in dem Hostel, in dem du gewohnt hast? Was hast du nach der Schule gemacht? Kannst du mit deinem Wasserbau-Studium deinem Land in Dürrezeiten helfen? Hast du noch Kontakt zu anderen, die mit dir im Hostel waren?“

Und Eden Ollo beginnt zu erzählen:
„Ich wuchs als elftes von 13 Kindern meines Vaters in dem kleinen Dorf Gewada auf. Er war Distriktvorsteher und hatte zwei Ehefrauen. Meine Mutter war die Zweitfrau, sie hatte vier Kinder. Als ich fünf Jahre alt war, gab es einen Regierungswechsel, und mein Vater, der mit der bisherigen Regierung zusammengearbeitet hatte, musste fliehen. Kurz hintereinander starben zuerst die erste Ehefrau, dann meine Mutter.“ Sie blickt auf ihre Hände. „Es war niemand da, der sich um uns gekümmert hätte“, fügt sie leise hinzu.

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Eine junge äthiopische Frau sitzt vor einer Wand mit Kindernothilfe-Logos (Quelle: Ludwig Grunewald)
Eden Ollo erzählte aus ihrem Leben (Quelle: Ludwig Grunewald/Kindernothilfe)
Eine junge äthiopische Frau sitzt vor einer Wand mit Kindernothilfe-Logos (Quelle: Ludwig Grunewald)
Eden Ollo erzählte aus ihrem Leben (Quelle: Ludwig Grunewald/Kindernothilfe)

„Ich wusste nicht, was es bedeutet, wenn jemand tot ist“ 

„Niemand hat mir erklärt, was es bedeutete, dass meine Mutter tot war. Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass sie zurückkam.“ In Eden Ollos Dorf gab es die Tradition, dass die Mütter einmal wöchentlich auf den Markt gingen, und wenn sie zurückkehrten, brachten sie etwas für die Kinder mit - z. B. Bananen oder Süßigkeiten. Die Dorfkinder versammelten sich dann immer an einer Straßenkreuzung und warteten sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. „Ich habe mit den anderen Mädchen und Jungen dort gestanden. Meine Mutter besaß ein schönes Tuch, und als eine Frauengruppe am Horizont auftauchte, glaubte ich, ihr Tuch zu sehen.“ Eden war überglücklich. Aber dann kam die Frau näher – und ging an ihr vorüber. „Es war eine Fremde. Ich habe geweint. Ich dachte, ohne meine Mutter habe ich keine Chance, erwachsen zu werden, weil sich niemand um mich kümmert.“ 

Ihre Geschwister von der anderen Mutter waren schon erwachsen, einige verheiratet, sie hatten bereits selbst eine Familie. Nur die fünfjährige Eden und die anderen drei Kinder ihrer Mutter waren minderrjährig, sie konnten nicht alleine überleben. Eine ihrer älteren Schwestern nahm Eden schließlich notgedrungen auf. Aber sie hatte ihre eigene Familie und eigentlich kein Geld, um sich um ein weiteres Kind zu kümmern. Was war mit ihrem Vater – hat Eden ihn jemals wiedergesehen? Ja, er kam eines Tages zurück, aber er starb, als sie in der achten Klasse war.

 

Das Gidole-Hostel ist Edens Chance

„Es ist so traurig, als Kind seine Familie  zu verlieren, aber Gott gab mir eine Chance“, sagt unsere äthiopische Besucherin. „Eine Chance“, zwei Wörter, die in diesem Interview häufig fallen, besonders wenn sie von ihrer Patin erzählt. Durch die Mekane Yesus Kirche, zu der Edens Familie gehörte, wurde das kleine Mädchen mit neuneinhalb Jahren im Kindernothilfe-Hostel in Gidole aufgenommen. Die Kinder im Hostel wurden durch Patenschaften über die Kindernothilfe unterstützt. Schulgebühren, Unterrichtsmaterial, Unterkunft, Mahlzeiten, Kleidung, alles wurde über die Patenschaften finanziert.  

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Eden Ollo mit blauem Talar und Doktorhut bei der Schulabschlussfeier (Quelle: privat)
Abfotografiertes Foto: Eden Ollo bei der Abschlusszeremonie auf der weiterführenden Schule (Quelle: privat)
Eden Ollo mit blauem Talar und Doktorhut bei der Schulabschlussfeier (Quelle: privat)
Abfotografiertes Foto: Eden Ollo bei der Abschlusszeremonie auf der weiterführenden Schule (Quelle: privat)

Alle Mädchen und Jungen gingen auf dieselbe Schule. Sie haben gemeinsam gegessen, gespielt, gefeiert. Und es gab einen Garten, in dem auch die Kinder mithalfen. Sie sollten nicht nur Lesen und Schreiben lernen, sondern auch praktische Dinge. „Wir mussten nicht selbst kochen, aber unsere Wäsche waschen. Die Älteren im Hostel waren wie unsere großen Schwestern, und sie halfen uns. Bei den Hausaufgaben, aber auch beim Waschen. Als ich ins Hostel kam, wusste ich nicht, wie man seine Sachen wäscht. Das hat dann eine der älteren Schülerinnen für mich übernommen. Als ich älter wurde, habe ich das ebenfalls für ein Mädchen gemacht, das neu ins Hostel kam. Weil ich gut in der Schule war, baten mich die Jüngeren, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie haben versucht, mein Leben zu kopieren. Ich war wie eine große Schwester für sie, und wir sind auch heute noch in Kontakt.“

Ein unvergesslicher Tag: Der erste Brief der Patin kommt an


Eden Ollo blieb fünf Jahre im Gidole-Hostel. Von Anfang an hatte sie sich immer gefragt, wer ihr den Aufenthalt dort finanziert. „Es war mein Traum, das herauszufinden und mich bei diesem Menschen zu bedanken. Und dann erhielt ich eines Tages einen Brief von meiner Patin.“ Die 34-Jährige macht eine Pause und sagt mit großer Betonung und über das ganze Gesicht strahlend: „Ich war wirklich glücklich! Jetzt wusste ich, dass sich jemand wirklich um mich kümmerte. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Es war mein erster Tag, an dem ich sehr glücklich war!“
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Eden Ollo steht Arm in Arm mit ihrer Patin im Garten (Quelle: privat)
Für Eden ist ihre Patin wie eine Mutter (Quelle: privat)
Eden Ollo steht Arm in Arm mit ihrer Patin im Garten (Quelle: privat)
Für Eden ist ihre Patin wie eine Mutter (Quelle: privat)

Als wir später mit ihrer Patin Gerda Hahn telefonieren, erinnert sie sich noch sehr genau, warum sie sich damals entschieden hat, die Patenschaft für Eden zu übernehmen. „Der Leiter des Gidole-Hostels hatte über sie geschrieben: ‚This girl has a will to learn!‘ Als ich das las, habe ich nur gedacht: Jawohl, dieses Mädchen unterstütze ich!" Noch heute hat sie all die Briefe, die ihr Patenkind ihr geschrieben hat – vom ersten Weihnachtsbrief 2004 bis zur Zeit, als sie per E-Mail kommunizieren konnten.

Der High-School-Abschluss ihres Patenkindes war so gut, dass Gerda Hahn die junge Frau mit ihrem Patenschaftsbetrag bis zum Bachelor unterstützte. Damit endet in der Regel das Förderprogramm der Kindernothilfe. „Sie fragte mich, wie ich mir meine Zukunft vorstelle“, sagt Eden Ollo. „Und ich schrieb zurück, dass ich meine Ausbildung sehr gerne fortsetzen würde.“ Das Masterstudium ging über zwei Jahre. Die 82-jährige Patin erzählt uns hinterher am Telefon: „Ich habe gedacht, zwei Jahre, das schaffe ich, und ich habe ihr den Master finanziert. Das Resultat zeigt: Eden brauchte nur eine Chance!“

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Äthiopien: Die Frauenselbsthilfegruppe hat ein tiefes Wasserloch gegraben (Quelle: Jakob Studnar)
Wegen der verheerenden Dürre in Teilen Äthiopiens leiden laut dem Welternährungsprogramm fast 12 Millionen Menschen Hunger (Quelle: Jakob Studnar)
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„Wasser ist Leben"

Die junge Äthiopierin studierte fünf Jahre lang an der Universität von Arba Minch Wasserwirtschaft und Wasserbau. Wegen der verheerenden Dürre in Teilen Äthiopiens leiden dort laut dem Welternährungsprogramm 11,8 Millionen Menschen Hunger. Neue Konzepte zum Wassermanagement sind dringend nötig. „Ich möchte mit meinen Kenntnissen meine Gemeinde unterstützen“, bekräftigt sie, „zum Beispiel bei der Bewässerung und der Bewirtschaftung von Land oder beim Bau eines Staudamms. Als Dozentin unterrichte ich junge Leute, damit sie Verantwortung für ihr Land übernehmen. Ich glaube, dass es ohne Wasser keine nachhaltige Entwicklung geben wird. Ich bilde junge Ingenieurinnen und Ingenieure aus, die mithelfen, die Wasserprobleme zu lösen. Ich selbst möchte auch wieder mehr in die Forschung einsteigen. Ja, Wasser ist Leben, ohne Wasser gibt es kein Leben. Ich finde, es ist ein großartiger Beruf!“

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Wassersammelzisterne in Äthiopien (Quelle: Kindernothilfe-Partner HUNDEE)
Wassersammelzisterne in Äthiopien (Quelle: Kindernothilfepartner)
Wassersammelzisterne in Äthiopien (Quelle: Kindernothilfe-Partner HUNDEE)
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Die erste Ingenieurin im Dorf


Nach ihrem Master bekam Eden Ollo eine Stelle als Dozentin an ihrer Uni. „Ich wurde zum Vorbild für andere, denn ich war die Erste aus meiner Region mit einem Ingenieursabschluss und dazu noch die erste Frau!“, sagt sie stolz. „Viele Kinder schauen zu mir auf und wollen so sein wie ich! Heute bin ich als Dozentin, Ausbilderin und Forscherin tätig. Ich danke Gott. Und ich danke diesem Kindernothilfeprogramm, denn ohne dieses Programm könnte ich nicht hier sein. Ich könnte kein Vorbild für andere sein.“

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Eine junge Frau steht vor einem strohgedeckten äthiopischen Rundhaus (Quelle: privat)
Eden Ollo vor einem der Tukuls ihrer Familie (Quelle: privat)
Eine junge Frau steht vor einem strohgedeckten äthiopischen Rundhaus (Quelle: privat)
Eden Ollo vor einem der Tukuls ihrer Familie (Quelle: privat)

Anderen helfen, weil ihr geholfen wurde

Schon als Studentin war sie nicht nur ein Vorbild bezüglich ihrer Studienerfolge, sondern auch hinsichtlich ihrer sozialen Einstellung. Durch das frühere enge Zusammenleben mit den anderen Mädchen und Jungen im Hostel hatte sie gelernt, mit anderen zu kommunizieren und vor allem anderen zu helfen. „An der Uni gab es eine christliche Gemeinschaft, die nannte sich ‚Love sharing Department‘. Wir haben Spenden gesammelt für Studierende, deren Familien ihnen nicht jeden Monat Geld schicken konnten. „Ich wurde die Leiterin dieser Abteilung. Ich bin auch in Armut aufgewachsen, ich kenne das Leben, das sie geführt hatten. Deshalb fiel es mir leicht, sie in ihrem Alltag und in ihrer Ausbildung zu unterstützen. Ich war wie eine Mutter für sie, auch wenn wir im gleichen Alter waren. Ich hatte mich ja auch schon im Hostel um die Jüngeren gekümmert.“

Nach ihrem Studium wurde sie von der Uni zur Gender-Koordinatorin berufen, eine ehrenamtliche Arbeit zusätzlich zu ihrem Job als Dozentin und Researcherin. Auch diese Tätigkeit beinhaltet, dass sie sich um bedürftige Studierende kümmert.

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Eden Ollo vor dem Eingang der Kindernothilfe-Geschäftsstelle (Quelle: Ludwig Grunewald/Kindernothilfe)
Eden Ollo vor der Kindernothilfe-Geschäftsstelle (Quelle: Ludwig Grunewald)
Eden Ollo vor dem Eingang der Kindernothilfe-Geschäftsstelle (Quelle: Ludwig Grunewald/Kindernothilfe)
Eden Ollo vor der Kindernothilfe-Geschäftsstelle (Quelle: Ludwig Grunewald)

„Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter wieder da ist!“

Am Ende unseres Interviews ist es Eden Ollo ein Herzensanliegen, Grüße von den anderen ehemaligen Patenkindern aus dem Gidole-Hostel weiterzugeben. „Die meisten von ihnen sind heute erfolgreich, einige haben hohe Positionen inne. Wir sind immer noch in Kontakt, wir sind wie eine Familie. Ich habe ihnen erzählt, dass ich heute hier bin, und sie wollen, dass ich Ihnen sage, wie dankbar sie der Kindernothilfe sind. Und sie würden auch so gern ihren ehemaligen Paten danken. Ich habe wirklich Glück gehabt in meinem Leben. Ich habe euch erzählt, wie ich mich mit fünf Jahren gefühlt habe, als meine Mutter starb. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass mit meiner Patin meine Mutter wieder da ist. Sie ist wirklich eine Mama für mich. Gott segne sie.“

Gerda Hahn ist glücklich, dass Eden im nächsten Jahr zurückkehren wird, um an der Uni Gießen zu promovieren. „Es tut mir gut, dass ich zu Edens Erfolgsgeschichte beitragen konnte“, sagt sie, „und auch, dass sie mich immer noch daran teilhaben lässt. Ich habe immer Patenkinder gefördert, statt einfach nur zu spenden. Es war mir wichtig, die Entwicklung eines jungen Menschen mitzuerleben und dass das Kind mit dieser Förderung eine Person, ein Gesicht verbinden kann. Viele junge Menschen brauchen nur eine Chance. Eden brauchte nur eine Chance. Und Sie dürfen mich gerne zitieren: Ich bin so stolz auf sie!“

Stand: 2024

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Gunhild Aiyub (Quelle: Jakob Studnar)
Gunhild Aiyub ist seit 1986 Redakteurin bei der Kindernothilfe und zuständig für die Kindermedien, den Jahresbericht und das Kindernothilfe-Magazin. 
    

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