Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Interview zur Lage in Haiti
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„Die Korruption ist ein Krebsgeschwür“

Text: Frida Garbers, Fotos: IMAGO

Seit Jahren wird Haiti von Bandengewalt beherrscht. Die Ermordung von Staatschef Jovenel Moïse vor mehr als zwei Jahren hat die Dauerkrise verschärft. Wegen des drastischen Anstiegs von Entführungen können sich die Menschen vielerorts nicht mehr versorgen und leiden unter Hunger. Pierre-Hugue Augustin, Leiter des Koordinationsbüros der Kindernothilfe in Haiti, berichtet von der angespannten Sicherheitslage in dem karibischen Inselstaat und den Auswirkungen auf die Arbeit in den Projekten.

Beschränkt sich das Risiko von Überfällen und Entführungen auf bestimmte Regionen und Stadtviertel oder ist es überall gefährlich?

Im Großraum Port-au-Prince und auf den Zufahrtstraßen besteht ein besonders hohes Risiko. Sie befinden sich seit einigen Monaten unter der Kontrolle von Banden. Diese liefern sich nicht nur blutige Revierkämpfe, sondern entführen auch öffentliche Verkehrsmittel und rauben Lastwagen.

Insgesamt wird Port-au-Prince von Nord bis Süd, von Ost bis West von diesen bewaffneten Gruppen belagert. Das erschwert das Reisen innerhalb des Landes und in die anderen Departements.

Auch in der Umgebung des Büros der Kindernothilfe in Port-aus-Prince kommt es immer häufiger zu Morden und Entführungen.

Wie gewährleisten Sie die Sicherheit der Kinder in den Projekten?

Das unterscheidet sich von Projekt zu Projekt, da die Situation nicht überall gleich ist. In den Provinzstädten arbeiten die Projektpartner mit der Polizei, den Justizbehörden und der Bevölkerung zusammen, um zu verhindern, dass sich die Sicherheitslage in ihrem Department verschlechtert.

Außerdem wird die Sicherheit der Kinder gemeinsam und partnerschaftlich zwischen den Verantwortlichen (Projektbeauftragte, Schulleitung, Eltern) und den Projektteilnehmer:innen (in Schülervertretung und Clubs organisierte Schülerinnen und Schüler) gewährleistet. So werden zum Beispiel die Orte geplanter Zusammenkünfte und Aktivitäten und die Routenplanung der teilnehmenden Kinder aufeinander abgestimmt.

Im Gegensatz dazu stehen die Projektpartner in der Hauptstadt in ständigem Kontakt mit den einzelnen Projektstandorten, um rechtzeitig über alle Veränderungen Sicherheitslage informiert zu werden. Sie stellen Sicherheitspersonal für das Gebäude ein und führen Fortbildungen durch, um den Kindern beizubringen, wie sie sich vor jeder Art von Gewalt schützen können. Auch die Eltern lernen, wie sie ihre Kinder schützen können.

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Eine Frau und ein Mann auf einem Motorrad passiert brennende Barrikaden (Quelle:IMAGO)
(Quelle: Imago)
Eine Frau und ein Mann auf einem Motorrad passiert brennende Barrikaden (Quelle:IMAGO)
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Welche Auswirkungen hat die Bandengewalt?

Aufgrund der aktuellen Lage im Land gibt es viele Fluchtbewegungen. Zahlreiche Familien verlassen die Hauptstadt, um in Provinzstädten Zuflucht zu suchen, in denen die Lage weniger angespannt ist. Dafür nehmen sie auch die hohen Preise für öffentliche Verkehrsmittel in Kauf: Transportunternehmen müssen Wegegeld zahlen, weil die bewaffneten Gruppen die Hauptzugangswege nach Port-au-Prince besetzen. Die Menschen fliehen auch in die benachbarte Dominikanische Republik. Darunter ist eine recht große Zahl von Jugendlichen und Kindern [Anmerkung der Redaktion: Im September 2023 wurde die Grenze vonseiten der Dominkanischen Republik geschlossen].

Viele haben Angehörige, die bereits in die USA migriert sind, oder warten selbst noch auf ihre Bestätigung, dass sie sich zwei Jahre lang mit Arbeitserlaubnis in den USA aufhalten dürfen. Ein anderer Teil flieht weiterhin auf kleinen, sehr unsicheren Booten auf die Bahamas und nach Florida. Diese Fahrten werden immer wieder unternommen, auch nach einer Abschiebung.

Gibt es Unterstützung von der Familie und Nachbarschaft?


Ja, Freunde und Familien helfen sich gegenseitig. Viele Anwohner mussten aus ihren Wohnvierteln fliehen und in anderen, sichereren Gebieten Zuflucht suchen. So entwickelte sich eine Solidarität zwischen Familien und Freunden, die ihre Wohnungen und Häuser mit den Gewaltvertriebenen teilen. Einige Familien sind auf mehrere Häuser verteilt, da ein einziges Haus nicht genug Platz für Eltern, Kinder und Großeltern bietet.

Sind auch Projektmitarbeitende betroffen?


Ja. Mindestens drei Mitarbeitende aus den Projektstandorten mussten Haiti aufgrund der prekären Sicherheitslage zwischen 2021 und 2022 verlassen. Aus dem Koordinationsbüro in der Hauptstadt mussten mindestens vier Mitarbeitende aus ihren Häusern fliehen, bei Dritten unterkommen oder andere Häuser mieten, weil ihre Wohngegenden von Gangs beherrscht wurden.
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Haitianische Geflüchtete in Mexico City (Quelle: Imago)
Haitianische Geflüchtete in Mexico City (Quelle: Imago)
Haitianische Geflüchtete in Mexico City (Quelle: Imago)
Haitianische Geflüchtete in Mexico City (Quelle: Imago)
Ist die Übergangsregierung handlungsfähig?

Sie ist handlungsfähig, aber der haitianische Staat müsste eine Strategie entwickeln, wie er mit der Bevölkerung zusammenarbeiten kann, um zur Normalität zurückzukehren. Ansonsten machen Ermordungen von Polizisten oder die Kaperung von gepanzerten Fahrzeugen durch Banden alle Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung zunichte. Vor allem die Korruption ist ein Krebsgeschwür, das sich in das Gewebe der haitianischen Gesellschaft frisst und auch die Polizei und die Justiz nicht verschont.

Was müsste getan werden, um Haiti wieder sicherer zu machen?


Zunächst einmal müsste das Land ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln. Das Bedürfnis, aus diesem Abgrund herauszukommen, muss in allen sozialen Schichten spürbar sein. Das Land wird von sozialen und politischen Machtkämpfen zerrissen. Die Jugendlichen aus den Ghettos, die für politische Zwecke missbraucht wurden, haben sich zu sehr gefährlichen und unkontrollierbaren Gangs entwickelt. Sie morden und vergewaltigen ohne Angst und völlig ungestraft. Die Nationalpolizei muss qualitativ, materiell und personell gestärkt werden.

Um die Sicherheitslage im Land zu verbessern, müssen zunächst die bewaffneten Gruppen aufgelöst werden. Hier wäre eine Unterstützung von außen sinnvoll. Wenn möglich und rechtlich vertretbar, sollten auch einige jugendliche Bandenmitglieder rehabilitiert werden. Es gibt sogenannte rechtsfreie Räume, in denen der Staat überhaupt nicht präsent ist. Die einzigen Machtorgane, die dort herrschen, sind die Bandenchefs.

Es bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes, um das Ende des Tunnels zu sehen. Denn soziale Ungleichheiten, Korruption und die schlechte Verteilung der Ressourcen des Landes reißen weiterhin Gräben zwischen den verschiedenen sozialen Akteuren auf und schüren Konflikte. Solange es diese Konflikte gibt, wird Unsicherheit herrschen.
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