Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

31.10.2017
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Nachbarschaftsinitiative Brasilien: Auf den Schienen der Rechte

Zwei junge Mädchen in der Favela (Quelle: Kindernothilfe)
(Quelle: Kindernothilfe)
Zwei junge Mädchen in der Favela (Quelle: Kindernothilfe)
(Quelle: Kindernothilfe)

Angst und Gefahr sind ständige Begleiter der Familien in der Favela „Ferroviário“ – Eisenbahn – in Salvador da Bahia. Die Rivalität zwischen Drogenbanden führt dazu, dass Gewalt auf der Straße zum Alltag gehört. Unser Projektpartner Avante nutzt eine örtliche Nachbarschaftsinitiative, um den Bewohnern Begegnungs- und Spielräume zu bieten und mit ihnen gemeinsam Strategien für ein friedliches Miteinander zu entwickeln.

Die historische Lok auf dem Flaschenetikett erinnert an die Einwanderer, die im 19. und 20. Jahrhundert ihre deutsche Heimat verließen und nach Brasilien auswanderten. „Eisenbahn“, so heißt das brasilianische Bier mit Immigrations-Historie auch heute noch. Bei spätabendlichen 30 Grad und zusammen mit dem kräftig gewürzten lokalen Fischeintopf Moqueca lässt sich ein Glas „Eisenbahn“ in Salvador de Bahia in einem Zug leeren.

Am nächsten Morgen – die 30 Grad sind bereits weit überschritten – lerne ich die steingewordene Version der Eisenbahn kennen: Ich bin unterwegs in einem der Armenviertel der Metropole Salvador de Bahia, in der Favela „Ferroviário“ – Eisenbahn.

Offene Autofenster als Selbstschutz-Maßnahme

Unser Kleinwagen arbeitet sich mühsam durch die engen Gassen. Rohe Holzhütten und würfelförmige Häuser, die sich gegenseitig zu stützen scheinen, säumen die unbefestigte Straße. Immer höher den Hang hinauf schraubt sich die Siedlung. Angesichts der steilen Lage verstehe ich völlig, dass die Armenviertel Brasiliens ihren Namen einer Kletterpflanze – Favela – verdanken. Ähnlich wie der stachelige Busch mit den ledrigen Blättern siedeln sich die groben Hütten und Häuser einer Favela kreuz und quer an den Bergen an und „klettern“ diese hoch.

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Drei Kinder der Favela (Quelle: Kindernothilfe)
Die Kinder aus dieser kleinen Favela am Rande von Salvador de Bahia auf ihrem „Spielplatz“ (Foto: J. Schübelin)
Drei Kinder der Favela (Quelle: Kindernothilfe)
Die Kinder aus dieser kleinen Favela am Rande von Salvador de Bahia auf ihrem „Spielplatz“ (Foto: J. Schübelin)
Wir sollen die Fensterscheiben herunterfahren, gibt uns der Fahrer mit Zeichen zu verstehen. Chris, unsere Kindernothilfe Projekt-Koordinatorin, erklärt warum. „Es ist wichtig, dass alle sehen können, wer im Wagen sitzt.“. Hier, wo Gewalt auf der Straße zum Alltag gehört, wo die Rivalität zwischen Drogenbanden groß und Streitigkeiten schnell mit Waffengewalt gelöst werden, ist es eine wichtige Selbstschutz-Maßnahme, in der Öffentlichkeit erkennbar zu sein. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zwischenfällen in den Favelas, werden Fahrzeuge angehalten und überfallen. Offene Autofenster zeigen: wir kommen in friedlicher Absicht.

„Uns gibt es doch, wir leben!“

Vor dem Versammlungsraum einer Nachbarschaftsinitiative lassen wir unseren Wagen stehen und laufen zu Fuß weiter. Der Weg in eine Talsenke geht steil hinunter. Auf halbem Weg kommt uns Rita entgegen und lotst uns über die unebenen Pfade zu ihrer Hütte. Die, erklärt sie unterwegs, dürfte hier eigentlich gar nicht stehen. Rita und ihre Nachbarinnen gehören zu MST, dem Movimento Sem Terra, einer Landlosenbewegung. Vor acht Jahren haben sie sich hier angesiedelt. Ohne Rechte auf das Land. Ohne offiziellen Landtitel. Aber mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, als sie es auf der Straße hatten. 42 Landlosenbesetzungen gebe es in Salvador, erzählt Rita, 18 allein im Eisenbahn-Viertel.

 
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Rita und die anderen Frauen aus der Leitung der MST-Movimiento Sem Terra Gruppe (Foto: Jürgen Schübelin)
Rita und die anderen Frauen aus der Leitung der MST-Movimiento Sem Terra Gruppe (Foto: Jürgen Schübelin)
Rita und die anderen Frauen aus der Leitung der MST-Movimiento Sem Terra Gruppe (Foto: Jürgen Schübelin)
Rita und die anderen Frauen aus der Leitung der MST-Movimiento Sem Terra Gruppe (Foto: Jürgen Schübelin)
Die meisten der Bewohner hier kämen aus anderen Regionen. Sie selbst sei allerdings in Salvador aufgewachsen. Vielleicht deshalb ist sie diejenige, die sich in der Nachbarschaftsinitiative intensiv für die Gemeinschaft einsetzt und für die Grundlagen zum Leben in der Favela kämpft: Es ist ein Kampf um eigentlich selbstverständliche Rechte. Um Wasser. Um medizinische Versorgung. Um Registrierung. „Uns gibt es doch, wir leben!“ ruft Rita. Und wer lebt, hat auch ein Recht auf eine ID-Card, die Erwachsenen genauso wie die Kinder.

Leben auf engstem Raum

Kinder sitzen einige um uns herum, während ich mich mit Rita unterhalte. Die fünfjährige Andressa schielt immer mal wieder zu uns herüber. Immer hibbeliger wird sie, rutscht immer näher an uns heran, je länger unser Erwachsenen-Gespräch dauert. „Wir gehen gleich“, beruhigt Rita sie lachend und erklärt, dass heute Andressas Kindergruppe stattfindet. Im Raum der Nachbarschaftsinitiative würde sie regelmäßig mit anderen Kindern aus der Favela spielen, würde in ihren Interessen gefördert und könne – angeleitet von unserem Kindernothilfe-Partner – Erlebtes verarbeiten. Es ist höchste Zeit, aufzubrechen, also ziehen wir los.

Zuvor will mir Vitória, Ritas Nachbarin, noch schnell ihr Zuhause zeigen. Auf geschätzten 30 Quadratmetern lebt sie hier mit ihren fünf Kindern. Drei Schlafstätten mit Matratzen sind jeweils durch einen Vorhang oder eine Spanplatte voneinander abgetrennt, die Küche mit einem kleinem Gaskocher öffnet sich zu einem winzigen Innenhof, der auch als Bad dient. Seit kurzem müssen sie in der Hütte noch enger zusammenrücken. An der Türschwelle präsentiert uns Vitórias Tochter ihr wenige Wochen altes Baby. Dass die kleine Ananda im nahegelegenen Krankenhaus zur Welt kommen konnte, dafür hat Rita gesorgt. Der Kampf um ihre offizielle Registrierung ist dagegen noch nicht gewonnen.

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Eine Frau präsentiert Katrin Weidemann ihr Baby (Quell: Jürgen Schübelin)
Die kleine Ananda in ihrem neuen Zuhause (Foto: Jürgen Schübelin)
Eine Frau präsentiert Katrin Weidemann ihr Baby (Quell: Jürgen Schübelin)
Die kleine Ananda in ihrem neuen Zuhause (Foto: Jürgen Schübelin)

Spielend lernen: Schwarz ist ein gefährliches Feld

In dem schmalen Raum der Nachbarschaftsinitiative hat die Spielstunde mittlerweile begonnen. Andressa und ihre Freundinnen und Freunde sitzen in Dreiergruppen auf dem runden Teppich und schieben kleine bunte Plastikfiguren über ein handbemaltes Spielfeld aus Pappe. „Um, dois, trȇs“ zählt Diego die Augen des Würfels und zieht dann seine rote Figur auf das drittnächste Feld. Es ist schwarz. Diego rollt mit den Augen. Schwarz, das weiß er, ist ein gefährliches Feld. Wer auf Schwarz gerät, muss gut auf sich aufpassen. Muss sich am besten in Sicherheit bringen. „Ich gehe zurück zum Anfang“ verkündet er und zieht seine Spielfigur zurück zum Startpunkt.

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Katrin Weidemann spielt mit zwei Kindern (Quelle: Kindernothilfe)
Das Spiel mit den gefährlichen schwarzen Feldern… (Foto: Jürgen Schübelin)
Katrin Weidemann spielt mit zwei Kindern (Quelle: Kindernothilfe)
Das Spiel mit den gefährlichen schwarzen Feldern… (Foto: Jürgen Schübelin)
Das lernen die Kinder hier, erklärt mir Janiele, die Psychologin, später: den Umgang mit ihrer Angst. Im Spiel üben sie Verhaltensweisen und Techniken ein, die ihre Resilienz stärken und ihnen helfen, besser mit belastenden Situationen umzugehen.

Die Angst vor Gewalt ist immer da

Und wie präsent Angst und Gefahr im Leben der Kinder und ihrer Familien ist, das erfahre ich in der Gesprächsrunde nach dem Spiel. Ein Schreckensszenario nach dem anderen erfüllt den Raum der Nachbarschaftsinitiative, als die Mädchen und Jungen anfangen zu erzählen, wovor sie sich fürchten
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Kinder gemeinsam in einem Sitzkreis (Quelle: Kindernothilfe)
Die Runde mit der Psychologin, in der die Kinder über ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit Gewalt berichten (Foto: Jürgen Schübelin)
Kinder gemeinsam in einem Sitzkreis (Quelle: Kindernothilfe)
Die Runde mit der Psychologin, in der die Kinder über ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit Gewalt berichten (Foto: Jürgen Schübelin)
Am gefährlichsten seien die Dinge, die auf der Straße passieren, höre ich von den Fünf- bis Achtjährigen. „Meine Mama wurde überfallen und schwer verletzt, als sie im Bus unterwegs war“, berichtet Lucy. Andere befürchten, dass sie selbst überfallen werden, „dass die Polizei uns schnappt und verprügelt“, oder „dass Jungs einen angreifen und man gezwungen wird, Dinge zu tun, die man nicht tun will.“ Es scheint ein normales Szenario zu sein, „dass jemand, den ich sehr gerne habe, getötet wird.“ Ich merke, wie mit jedem Beispiel, das die Kinder aufzählen, mein eigenes Entsetzen wächst. Wenn sie vom Cousin berichten, der vor der Schule verprügelt und schwer verletzt wurde. Oder die Männer mit den langen Maschinengewehren beschreiben, die ganz nah an ihnen vorbeigegangen seien.

Janiele, die Psychologin, kennt auch die Geschwister, sieben und dreizehn Jahre alt, die bei einer Razzia vor vier Wochen miterlebten, wie die Polizei ihr Zuhause komplett demolierte. Die Siebenjährige erlebte bei dem Überfall solche Todesangst, dass sie seitdem nicht mehr redet, nachts einnässt. Die ganze Familie stehe noch unter Schock, keiner habe sich erholt.

Austausch und Begegnung in den Räumen der Nachbarschaftsinitiative

Gegen alle Erfahrung von Gewalt, gegen die alltägliche Missachtung und Verletzung ihrer Rechte finden die Kinder und ihre Familien im Projekt eine Anlaufstelle zur psychosozialen Beratung. Hier in der Nachbarschaftsinitiative erleben sie friedliche Begegnungs- und Spielräume und entwickeln Strategien für ein friedliches Miteinander.

Die Eisenbahn brachte einst Einwanderer aus aller Welt hierher. Sie flohen vor den wirtschaftlichen und politischen Problemen ihrer alten Heimat. Damals wie heute versuchen Menschen, hier bessere Lebensbedingungen zu finden und ein friedvolleres Zusammenleben für sich und ihre Kinder zu entwickeln. Wir als Kindernothilfe helfen mit: die Kinder erfahren, was es heißt, angstfrei und in Sicherheit zu leben. Sie sollen in Frieden aufwachsen in ihrem Eisenbahn-Viertel auf den Schienen ihrer Rechte.
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Eine junge Frau steht vor einer Hütte mit Baby auf dem Arm (Quelle: Kindernothilfe)
Vitória und Ananda vor ihrer bescheidenen Hütte (Foto: Jürgen Schübelin)
Eine junge Frau steht vor einer Hütte mit Baby auf dem Arm (Quelle: Kindernothilfe)
Vitória und Ananda vor ihrer bescheidenen Hütte (Foto: Jürgen Schübelin)

Über die Autorin

Porträtfoto von Katrin Weidemann (Quelle: Kindernothilfe / Studio Hirsch)
Katrin Weidemann
ist seit 2014 Vorstandsvorsitzende der Kindernothilfe. Mit ihren Blog-Beiträgen gibt sie persönliche Einblicke in ihre Arbeit.

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