Wie der Krieg im Nahen Osten das Recht auf Bildung verletzt
Text: Annette Kuhn Bilder: Jakob Studnar
Mehr als 1,2 Millionen Menschen sind im Libanon auf der Flucht, davon etwa ein Drittel Kinder. Die meisten dieser Mädchen und Jungen haben keinen Zugang zu Bildung. Daran ändert zunächst auch die gerade begonnene Waffenruhe noch nicht sofort etwas. Ein Projektpartner der Kindernothilfe vor Ort gibt einen Einblick in die aktuelle Situation und schildert, wie Schulen jetzt zumindest eingeschränkt Unterrichtsangebote machen.
Normalerweise beginnt die Schule nach den Sommerferien Ende August oder spätestens Anfang September. In diesem Jahr sollte es am Montag, 2. September, losgehen. Aber seit Wochen ist im Libanon nichts normal. Vor einem Jahr haben die Spannungen zwischen der Hisbollah-Miliz und dem israelischen Militär zugenommen, es gab immer wieder Angriffe und viele Tote. Anfang September dieses Jahres war die Situation eskaliert. Und auch wenn jetzt tatsächlich die vereinbarte Waffenruhe hält, wird der Libanon noch lange im Ausnahmezustand sein.
Das libanesische Bildungsministerium musste den Beginn des Schuljahres immer weiter nach hinten verschieben, zuletzt sollte es Anfang November soweit sein. Aber tatsächlich konnte der Unterricht nur an wenigen Schulen starten, weil nach Auskunft des libanesischen Bildungsministers Abbas Halabi mindestens 600 Schulen als Unterkunft für Geflüchtete dienen.
Viele der geöffneten Schulen im Libanon bieten aktuell Unterricht im Zweischichtsystem an
Verlässlich geöffnet haben inzwischen vor allem Privatschulen, sagt Reem Moukaddem von Amel Association International, einer der Projektpartner der Kindernothilfe vor Ort. Von den staatlichen Schulen hätten in den unsicheren Regionen nur ungefähr zehn Prozent regulär geöffnet, die anderen würden als Unterkünfte für Geflüchtete genutzt. „Dort gibt es keinen Platz für die eigentlichen Schüler der Schule und auch nicht, um Unterricht für Geflüchtete anzubieten.“
Die etwa 350 der geöffneten öffentlichen Schulen bieten nach Auskunft von Moukaddem ein Zweischichtsystem an: Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern kommen von Montag bis Mittwoch, die andere Gruppe von Donnerstag bis Samstag. Die tägliche Unterrichtszeit wurde jeweils auf sieben Stunden ausgeweitet, sodass die Kinder zumindest 21 Unterrichtsstunden in der Woche haben. Außerdem gibt es Kollaborationen mit Privatschulen, die von Montag bis Freitag am Nachmittag für die Kinder Unterricht anbieten, die sonst keine Möglichkeit haben, eine öffentliche Schule zu besuchen. Dort, wo Schulen aus Sicherheitsgründen ganz geschlossen sind, hat das Bildungsministerium Online-Unterricht angeordnet. Die Ausgestaltung liegt in den Händen der Schulleitung.
Für die Lehrkräfte an den noch geöffneten Schulen bedeutet das Zwei-Schicht-System allerdings Mehrarbeit. Wie Moukaddem berichtet, dringt der libanesischer Lehrerverband daher darauf, den Lehrkräften zunächst eine Zulage von 600 US-Dollar zu garantieren. Daher kamen viele Lehrer der Anweisung des Bildungsministeriums, in die Schulen zurückzukehren, bislang nicht nach.
An den Schulen, die als Unterkünfte für Geflüchtete genutzt werden, kann derzeit kein Unterricht stattfinden, „dort gibt es nur Freizeitangebote für Kinder“, erklärt Reem Moukaddem. Geplant sei aber, dass die Schülerinnen und Schüler in nahegelegene Schulen gebracht werden oder dass sie Online-Unterricht bekommen. Derzeit gebe es dazu aber noch keine Anweisung des Bildungsministeriums.
Kinder brauchen psychosoziale Unterstützung und Ablenkung, um mal nicht an den Krieg zu denken
Die Projektpartner der Kindernothilfe versuchen, in dieser Situation Unterstützung zu leisten. Sie verteilen Unterrichtsbücher, Schreibmaterial und Mobiltelefone oder Laptops an Geflüchtete. Außerdem richten sie digitale Hubs oder öffentlich zugängliche Punkte mit Internetzugang ein, damit die Schülerinnen und Schüler am Online-Unterricht teilnehmen können. Außerdem haben sie soweit möglich in den Flüchtlingsunterkünften Lernräume eingerichtet und bieten hybride Lernangebote, die Kindern und Jugendlichen helfen sollen, verpasste Unterrichtsstunden nachzuholen.
Doch Reem Moukaddem weiß auch, dass das den regulären Unterricht nicht ersetzen kann: „Der Verlust des gewohnten Alltags und des psychisch unterstützenden Umfeldes hat gravierende Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die mentale Gesundheit der Kinder.“ Sie würden unter großem emotionalen Stress stehen. Sie rechnet mit erheblichen Entwicklungsverzögerungen und wachsenden Ängste bei Kindern im schulpflichtigen Alter. Um hier entgegenzuwirken, fokussieren sich die humanitären Hilfsmaßnahmen der Kindernothilfe auch auf psychosoziale Unterstützung. Wichtig seien, so Moukaddem, vor allem sportliche und spielerische Freizeitangebote, bei denen die Kinder ihre Energie rauslassen können. Aber es gibt auch psychologische Unterstützung zum Beispiel in Form von individueller sozialer und psychologischer Beratung und über Angebote psychologischer Erster Hilfe. Auch die Betreuer werden auf diese großen Aufgaben vorbereitet, zum Beispiel durch ein Erziehungskompetenzprogramm oder der Vermittlung von Bewältigungsstrategien.
Der Bedarf an psychosozialer Unterstützung und Bildungsangeboten kann allerdings kaum gedeckt werden, weiß Reem Moukaddem, weil die Zahl der Geflüchteten von Tag zu Tag steigt und weil ihre Grundbedürfnisse kaum gedeckt werden können. „In einem solchen Umfeld können Bildungsaktivitäten kaum umgesetzt werden“, sagt die Projektleiterin der Organisation Amel.