Kilometer 18: Wenn die Schule zu den Kindern kommt
Text: Ludwig Grunewald, Fotos: Ludwig Grunewald, Lorenz Töpperwien, Florian Gregorzyk
Bildung, Kinderschutz, Selbsthilfe – Themen, für die die Kindernothilfe schon seit Jahrzehnten steht. Worte, die manchmal so abstrakt wirken, werden durch ein Schulprojekt auf den Philippinen zur eindrucksvollen Realität.
Wir befinden uns eine Autostunde außerhalb Taclobans, der Hauptstadt der philippinischen Provinz Leyte, auf dem Weg in die Gemeinde Marabut. Unser gut klimatisierter Kleinbus schlängelt sich bei bestem Urlaubswetter die malerische Küstenstraße entlang: Meer, Palmen und mangrovenbewachsene Felsen bilden einen pittoresken Hintergrund. Postkartenmotive. Im Vordergrund tut sich jedoch leider ein anderes Bild auf. Wie aus dem Nichts tauchen entlang der in die Jahre gekommenen Straße immer wieder baufällige Hütten an den Rändern des Palmenwaldes auf. Manchmal einzelne Häuschen, manchmal Siedlungen. Es herrscht geschäftiges Treiben, allerdings nicht wie in der wirtschaftlich aufstrebenden Universitätsstadt Tacloban: Viele Kinder spielen auf den Straßen, man sieht alt und jung arbeiten. Manche sitzen an Tischen und schnitzen. Kleine Dinge, die sich zu Geld machen lassen, in diesem Fall etwas, was so aussieht wie Schaschlikspieße. Gute Perspektiven lassen sich hier nicht erkennen. Im Gegenteil.
Wie wichtig Bildung für eine bessere Zukunft ist, dass es für die vielen Kinder in der Gegend nur mit Schule aufwärtsgehen kann, ist den Eltern in dieser Region schmerzlich bewusst. So wie Rose und Jomel. Sie leben mit ihren drei Kindern in einem Dorf, das in Marabut alle nur „Kilometer 18“ nennen. Eine von vielen kleinen Siedlungen weit abseits der Küstenstraße, der Hauptverkehrsader. Ab vom Schuss und nur zu Fuß oder mit dem Motorrad über eine – besonders bei schlechtem Wetter kaum passierbare – Bergstraße erreichbar. Ein Ort ohne Zugang zu Bildung, denn alle Schulen der Gemeinde erstrecken sich entlang der Küste. So wurden seit Jahrzehnten alle Eltern der entlegeneren Dörfer vor die gleiche Wahl gestellt: Entweder die Kinder ziehen ins Tal, um zur Schule zu gehen, oder sie gehen gar nicht. Eine Wahl, die ganz bestimmt nicht leicht zu treffen ist. Tägliches Pendeln zu Fuß wäre bei dieser langen Strecke nicht möglich, der Motorrad-Transfer mit umgerechnet etwa zwei Euro pro Fahrt ist viel zu teuer für die Menschen hier. Rose und Jomel haben zwei Jungen im schulpflichtigen Alter, den elfjährigen Isko und den achtjährigen Teniel. Und obwohl sie keine Verwandten an der Küste haben, bei denen die Kinder hätten unterkommen können, haben sie sich dafür entschieden, die beiden im Tal zur Schule zu schicken. Auch wenn es bedeutete, Isko und Teniel fünf Tage alleine lassen zu müssen und so deren Sicherheit und Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
„Wir hatten immer sehr viel Angst um unsere Kinder“
Wir treffen Rose und Jomel im Tal, in einer kleinen Hütte im Dickicht unweit der Schnellstraße. Die Siedlung wirkt ein bisschen wie ein Campingplatz: Es gibt ein zentrales Waschhaus, und zwischen Bäumen verteilt, befinden sich mal größere, mal kleinere Hütten. Die Eltern zeigen uns gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Maria die etwa zehn Quadratmeter, auf denen ihre Söhne Isko und Teniel während einer Schulwoche lebten: Eine kleine Feuerstelle im Vorraum, auf der der „große“ Isko für sich und seinen Bruder einfache Reismahlzeiten kochte, eine kleine Schlafnische mit Matratze, eine Sitzecke. Kein elektrisches Licht, von einer Toilette ganz zu schweigen. Immerhin ist die Hütte recht stabil gebaut. Und, wenn am Äquator die Sonne um 17.30 Uhr untergeht, wird es sehr schnell sehr dunkel. „Wir hatten immer viel Angst um unsere Kinder. Essen sie genug? Schlafen sie genug? Sind sie sicher?“, sagt Rose. Die 31-Jährige ist den Tränen nahe, während wir mit ihr sprechen. Gleichzeitig merkt man ihr die Erleichterung an, dass sie und ihre Familie dieses Kapitel hinter sich lassen können. „Wir sind so froh, dass dies nun vorbei ist“, sagt sie. „Jeden Sonntagmittag mussten wir uns voneinander verabschieden, sodass die beiden vor Sonnenuntergang das Tal erreichen konnten. Jetzt haben wir sie wieder die ganze Zeit um uns herum und können auf sie aufpassen.“ An der Wand entdecken wir noch Iskos Auszeichnung für seine besonders guten schulischen Leistungen. Quasi als Erinnerung, warum er Woche für Woche hier allein mit seinem Bruder hauste …
Neue Schule, neues Leben
Das wollen wir sehen, und wir machen uns auf den Weg ins Heimatdorf der Familie, Kilometer 18. An der Auffahrt in den Wald stehen für uns geländegängige Motorräder samt Fahrern bereit. „Helme tragen nur Terroristen“, hatte man uns vorher schon gesagt. Wir fahren also ohne Kopfschutz. Warum sollten wir auch sicherer unterwegs sein als die Schulkinder – wenn sie mal in den Luxus einer Motorradfahrt kommen? Etwa 50 Minuten arbeiten sich unsere Fahrer über die buckelige Erd- und Schotterpiste, durch Engpässe und um unbefestigte Kurven – vorbei an vereinzelten Hütten, Hühnern, Ziegen und einem Wasserbüffel, der uns mit großen Augen aus seinem Tümpel heraus anstarrt.
Mehr als ein Gebäude
Denn einen wesentlichen Anteil am Projektergebnis haben die Frauen aus den Selbsthilfegruppen der Gemeinde Marabut. Sie haben schon früh eine wichtige Aufgabe übernommen, die weder die Kindernothilfe selbst noch der Projektpartner PKKK alleine hätte schultern können. Sie haben sich bei den lokalen Behörden eingesetzt, dass der Schule Lehrerinnen und Lehrer zugewiesen werden und sie ins staatliche System mit übernommen wird. Das beschreibt auch die nationale Kindernothilfe-Koordinatorin Telay Echano: „Die Frauen haben immer mehr den Wert davon erkannt, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Ziele zu setzen. Dass nun die Gemeinde und das Bildungsministerium die finanzielle Verantwortung für die Schule übernehmen, ist der Beharrlichkeit und Geduld der Frauen der Selbsthilfegruppen zu verdanken.“
Diese Stärke der Selbsthilfegruppen betont auch die Kindernothilfe-Mitarbeiterin Stefanie Geich-Gimbel: „Es geht um die Aktivierung der eigenen Fähigkeiten für Menschen, die nicht mehr daran glauben, etwas verändern zu können. Die Arbeit in den Gruppen macht etwas mit den Frauen.“ Iskos Mutter Rose ist auch eine von Ihnen: „Seit ich in meiner Gruppe bin, komme ich wieder mehr in Kontakt mit anderen Menschen. Ich habe neue Ziele, natürlich besonders das Schulprojekt.“ Dass die Frauen so tief ins Projekt involviert sind, ist für Geich-Gimbel aber nicht nur bereichernd für die Frauen selbst, sondern sichert auch den Fortbestand der Schule: „Es gibt so viele Projekte auf der Welt, die nicht nachhaltig sind, weil die Menschen nicht einbezogen werden. Manchmal wird ein Gebäude gebaut, für das sich niemand verantwortlich fühlt. Hier ist das anders. Hier sind die Frauen und die restliche Gemeinde mit dem Herzen dabei!“
Wir verlassen Kilometer 18 erleichtert und zuversichtlich. Es war aber ein Besuch, der noch lange nachwirken sollte – besonders der Gedanke, was Spendengelder zusammen mit Gemeinschaftsgeist bewirken können.