"Die Hauptfrage ist: Wirst du überleben?"
Text: Annette Kuhn Bilder: Myrne Nebo/Kindernothilfe
Während auf der Weltbühne über die Zukunft der Ukraine verhandelt wird, geht der Krieg unverändert weiter. Und damit leben auch die Menschen im Land weiter in Angst und in Ungewissheit. Ein zermürbender Zustand, der in besonderer Weise Kinder und Jugendliche belastet, weil viele ihr Land kaum noch ohne Krieg kennen. Dabei hängt gerade auch von ihnen ab, wie gut sich das Land nach einem möglichen Kriegsende wieder stabilisiert und welche Perspektiven sich öffnen. Was junge Menschen jetzt brauchen.
"Ich fühle mich nirgendwo mehr richtig zu Hause." Es ist ein Satz, der hängenbleibt. Es gibt noch mehr solcher Sätze in dem Film "Teen Angst", in dem neun junge Ukrainerinnen im Alter von 15 bis 20 Jahren von ihrem aktuellen Leben erzählen und zeigen, was es heißt, im Krieg erwachsen zu werden. Sie haben den Dokumentarfilm selbst entwickelt und geben darin berührende Einblicke in ihren Alltag und ihre Gefühle zwischen Aushalten, Abwarten, Ankommen, Angst.
"Teen Angst" war Mitte März in Berlin beim Café Kyiv zu sehen. Zum dritten Mal hat die Konrad-Adenauer-Stiftung zu der Konferenz eingeladen, die in diesem Jahr den Titel "Freedom must win" trug. In Diskussionen, Workshops und Filmvorführungen ging es in der eintägigen Veranstaltung vor allem um die aktuelle politische Situation, aber auch um die Zukunft des Landes und den damit verbundenen Wiederaufbau.
Der Blick ins Programm zeigt: Das darf nicht nur ein politisches Thema bleiben. Wie zukunftsfest das Land nach dem Krieg ist, hängt ganz wesentlich von der Kraft und Resilienz der Ukrainerinnen und Ukrainer ab – und von der Unterstützung, die sie bekommen. BMZ-Staatssekretär Jochen Flasbarth, der auf Einladung der Kindernothilfe auf der Konferenz sprach, betonte die Notwendigkeit und den Willen der Bundesregierung, die ukrainische Zivilgesellschaft weiter zu unterstützen.


Durch den Krieg hat sich die soziale Isolation nach der Pandemie noch verstärkt
Dabei müssen vor allem junge Menschen im Fokus stehen. Entsprechend ging es im Café Kyiv auch um die Frage, unter welchen Bedingungen Kinder und Jugendliche in der Ukraine und außerhalb des Landes heute aufwachsen und welche Unterstützungsbedarfe sie aktuell haben. Die Kindernothilfe hat dazu die Veranstaltung "Aufwachsen im Krieg" mitorganisiert und Dr. Yulia Sporysh eingeladen, Soziologin an der Universität in Kyjiw und Gründerin der NGO "Girls".
Sporysh schildert eindrücklich, wie belastet Mädchen und Jungen nach drei Jahren Krieg sind und welche negativen Auswirkungen die fehlenden sozialen Kontakte haben. Dabei macht sie auch deutlich: "Besonders schwierig ist es für Kinder, weil die Isolation, die sie schon zwei Jahre durch die Corona-Pandemie erlebt haben, durch den Krieg direkt weiterging." Viele Schülerinnen und Schüler würden seit fünf Jahren nur Online-Unterricht kennen. Wenn überhaupt, denn nicht einmal der lässt sich in einigen Regionen verlässlich aufrechterhalten. Das Recht auf Bildung wird in der Ukraine durch den Krieg immer wieder verletzt.
Mehr noch: Über die lange Zeit, die der Krieg nun schon andauert, lässt auch die Lernmotivation nach. Das betrifft gleichermaßen Kinder und Jugendliche in der Ukraine wie auch in den Ländern, in die sie geflüchtet sind. In den ersten Monaten nach Beginn des russischen Angriffskriegs haben sie in Deutschland neben dem Unterricht an einer deutschen Schule auch noch den ukrainischen Online-Unterricht wahrgenommen, manche sogar noch eine Samstagsschule besucht. Aber je länger der Krieg dauert, desto stärker ließ die Motivation nach, sich so einer Doppelbelastung auszusetzen. Auch in der Ukraine verlassen mehr junge Menschen schon nach dem ersten Abschluss, also nach der neunten Klasse, die Schule. Weiterführende Bildung ist zweitrangig geworden. Dabei wäre sie wichtig, um die junge Generation zu empowern.
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Wer sich solche Fragen stellt, erlebt große Schutz- und Mutlosigkeit. Wichtig sei es daher, Kindern und Jugendlichen selbst eine Stimme zu geben, um sie zu stärken. Darin sind sich die Expert*innen beim Café Kyiv einig. Vor allem der Wiederaufbau müsse gemeinsam mit der jungen Generation geplant werden. "Die Jugend ist unser Kapital", sagte Andriy Chesnokov, stellvertretender Jugendminister der Ukraine. Jugendarbeit sei vor dem Krieg kaum ein Thema gewesen, heute schon. Aus Sicht der Sozial- und Politikwissenschaftlerin Yulia Bidenko reicht das aber noch nicht. Die Professorin der Universität Charkiw fordert mehr Anstrengungen, junge Menschen einzubeziehen – insbesondere bei Entscheidungen, die ihr Leben und ihre Zukunft betreffen. "Es ist wichtig, jungen Menschen eine Stimme zu geben", sagt sie.
Mehr Austausch zwischen Organisationen in der Ukraine und in der Diaspora
Damit das gelingt, ist es aus ihrer Sicht wichtig, den Austausch stärker zu fördern zwischen den Jugendlichen in der Ukraine und denen, die wegen des Kriegs ins Ausland geflüchtet sind. Dafür wünscht sich Bidenko mehr Austauschformate. Organisationen in der Ukraine und in der Diaspora würden bislang oft nur punktuell, aber nicht kontinuierlich und damit auch nicht nachhaltig zusammenarbeiten. Aber die Verbindung dürfe nicht abreißen, denn sie sei ein Fundament für den Wiederaufbau nach dem Krieg.
Doch noch ist völlig unklar, ob und wann es wirklich Frieden gibt. Für viele Jugendliche ist das heute schwer vorstellbar. Im Film fragt eine 17-Jährige ihre Freundin: "Kannst Du Dich an eine Zeit ohne Krieg erinnern?“ Die Freundin schüttelt den Kopf.
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