Bei ihrem ersten Satz auf Deutsch hat die ganze Klasse applaudiert
Text: Annette Kuhn Bilder: Martin Bondzio
Auf einmal in einer fremden Umgebung mit einer unbekannten Sprache: Das Ankommen an einer Schule in Deutschland ist für Geflüchtete eine große Herausforderung. Drei Jahre nach Beginn des Kriegs in der Ukraine blicken vier ukrainische Schülerinnen und Schüler zurück: Was hat ihnen beim Start geholfen? Was waren die größten Hürden? Was könnte besser laufen?
Katya erinnert sich noch ganz genau an ihren ersten Tag am Krupp-Gymnasium in Duisburg: "Die Lehrerin hat etwas gesagt, und ich habe kein Wort verstanden. Ich habe die anderen gefragt, wieso sie das nicht übersetzt, aber die haben ja mich nicht verstanden." Das war im März 2022, Katya war mit ihren Eltern und den zwei Geschwistern gerade erst in Deutschland angekommen. Die Familie kommt aus Winnyzja, im Südwesten der Ukraine. "Als der Krieg losging, sind wir einfach losgefahren", erinnert sich die heute 15-Jährige. Drei Tage haben sie nach Moldawien gebraucht. Von dort ging es dann weiter nach Deutschland, nach Duisburg. Auf einmal war sie in einer fremden Umgebung, in einer neuen Schule und hörte eine Sprache, in der sie nicht einmal nach dem Weg fragen konnte.
Die Fluchthintergründe kennen die Lehrkräfte nicht, weil die gemeinsame Sprache fehlt
So wie Katya ging es auch Yakiv, Dyma und Maria in den ersten Tagen am Krupp-Gymnasium. Heute, fast drei Jahre nach Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine sitzen sie in einem Klassenraum im ersten Stock der Schule und sprechen gemeinsam mit den zwei Lehrerinnen Hülya Orman und Heike Kirstein darüber, wie sie die erste Zeit an der Schule erlebt haben. Was ihnen geholfen hat, was die größten Hürden waren und was sie sich vielleicht auch anders gewünscht hätten.
Dyma ist der Älteste von ihnen, er ist 16 Jahre, kam erst im Sommer 2023 nach Deutschland. Seine Familie ist lange in der Ukraine geblieben, sie haben in Krementschuk gelebt, zu normalen Zeiten vier bis fünf Autostunden von Kiew in südöstlicher Richtung entfernt. Aber normal ist in diesen Zeiten nichts in der Ukraine. Irgendwann waren die Raketenangriffe zu viel. Mit seiner Mutter ist Dyma nach Deutschland geflüchtet. Bruder und Vater mussten in der Ukraine bleiben.
Auch die Familie der 14-jährigen Maria aus Kijiw musste sich vom Vater trennen, als sie im März 2022 nach Deutschland kam. Der 15-jährige Yakiv ist hingegen mit der ganzen Familie gleich nach Kriegsbeginn aus der West-Ukraine, aus Cherniwzie, geflüchtet.
All diese Hintergründe und Geschichten, all das, was die vier Schülerinnen und Schüler auf ihrer Flucht erlebt haben, wusste Hülya Orman nicht, als sie beim Aufnahmegespräch vor ihr saßen. Die Deutschlehrerin und Koordinatorin der IVK-Klassen, der internationalen Vorbereitungsklassen, spricht weder Russisch noch Ukrainisch, und die Jugendlichen konnten alle kein Deutsch. Auch nicht ihre Eltern, daher war eine Verständigung kaum möglich.
Zu Beginn des Ukraine-Kriegs gingen viele noch von einem temporären Aufenthalt aus
Das Krupp-Gymnasium hat viel Erfahrung mit geflüchteten Schülerinnen und Schülern, auch schon vor 2022, aber das Ankommen der ukrainischen Mädchen und Jungen lief noch mal ganz anders. Die syrischen Kinder mussten 2015/16 oft Monate auf einen Schulplatz warten. Bei den Geflüchteten aus der Ukraine waren es nur ein paar Tage, höchstens Wochen. Die Familien standen oft einfach vor der Tür. "Es musste alles sehr schnell gehen", erinnert sich Hülya Orman.
Viele gingen zunächst aber von einem temporären Aufenthalt aus. Daher haben die meisten Kinder und Jugendlichen auch noch neben dem Unterricht in der deutschen Schule am Nachmittag ukrainischen Online-Unterricht gehabt. Heute macht das nur noch Dyma. "Weil es meine einzige Chance ist, einen Abschluss zu machen." Ob er den Abschluss a Krupp-Gymnasium schafft, weiß er noch nicht. In der Vorbereitungsklasse kann er keinen Abschluss machen.
Normalerweise kommen die neuen Schülerinnen und Schüler ohne Deutschkenntnisse am Krupp-Gymnasium erst einmal in die IVK-Klasse, die in anderen Bundesländern Deutsch-, Intensiv- oder auch euphemistisch Willkommensklassen heißen. Dort lernen sie vor allem Deutsch. Wenn das Sprachniveau besser ist, wechseln sie die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die von der Lehrerkonferenz eine entsprechende Prognose bekommen, erst stundenweise und spätestens nach zwei Jahren möglichst ganz in eine Regelklasse. Nach Bedarf kann die Zeit in der Vorbereitungsklasse auch auf drei Jahre gestreckt werden. „Alle anderen wechseln die Schule. Sie gehen dann in der Regel an ein Berufskolleg“ erklärt Orman. Dort können sie ihren ersten Abschluss erlangen.
Maria ist als einzige gleich in eine Regelklasse gekommen. Sie war gerade erst elf Jahre – zu alt für die Grundschule, aber auch noch sehr jung für die Vorbereitungsklasse. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass gerade jüngere Kinder bis zwölf Jahre besser andocken und erfolgreicher lernen können, wenn sie gleich in der Regelklasse starten, auch wenn die Herausforderung am Beginn besonders groß ist. Zusätzliche Unterstützung brauchen sie dann aber natürlich schon, daher hat Hülya Orman – mit Unterstützung einer ukrainischen Aushilfslehrkraft – Maria und die anderen ukrainischen Kinder in der Regelklasse stundenweise aus dem Unterricht genommen, um mit ihnen intensiv Deutsch zu üben.
Inzwischen braucht Maria das nicht mehr. Nach fast drei Jahren ist sie angekommen. Aber das hat gedauert. Sie ist eher ein schüchterner Typ, lange hat sie sich nicht getraut, etwas auf Deutsch zu sagen. Erst nach ein paar Wochen hat sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und die Lehrerin gefragt: "Kann ich bitte auf die Toilette gehen?" Die ganze Klasse hatte da applaudiert. Und Maria war stolz und beschämt zugleich. "Die Sprache war für mich am Anfang die größte Herausforderung", sagt die heute 14-Jährige. Und die anderen drei nicken. Katya erinnert sich, wie anstrengend es war, als sie zwar schon einzelne Wörter verstand, aber sich daraus dann immer den Kontext erschließen musste.
Aber heute sind Maria, Katya, Yakiv und Dyma in ihrer neuen Umgebung, in ihrer Schule angekommen. "Geholfen hat dabei, dass die Lehrer so geduldig waren", sagt Maria. "Und dass es am Anfang eine Aushilfslehrerin gab, die auch Ukrainisch konnte", ergänzt Yakiv, "die konnten wir immer alles fragen". Sie hat sich auch sehr um die Eltern gekümmert, ihnen alles zur Schule erklärt. Und Dyma hat es gutgetan, dass er sich in seinem eigenen Tempo entwickeln konnte. Weil er mit guten Englischkenntnissen an die Schule kam, sollte er eigentlich gleich in die bilinguale Klasse. "Aber da habe ich mich erst nicht wohlgefühlt", darum blieb er zunächst in der Vorbereitungsklasse. Inzwischen aber ist er offen dafür und startet einen zweiten Versuch.
"Jedes Kind hat ein eigenes Tempo", sagt Lehrerin Hülya Orman
Hülya Orman sagt, dass es wichtig ist, individuelle, flexible Wege zu finden: "Jedes Kind hat ein eigenes Tempo. Aus meiner Sicht hätte es Dyma gleich in der bilingualen Klasse geschafft, aber es war für ihn vielleicht noch nicht die Zeit dafür." Es brauche mehr Raum für solche flexiblen Lösungen.
Die Lehrerin weiß aber auch, dass es den Lehrkräften viel abverlangt, immer die Bedarfe aller ankommenden Schülerinnen und Schüler im Blick zu haben. Es gibt keine Stelle für Schulsozialarbeit an der Schule, das ist am Gymnasium auch eher unüblich. Ormans Kollegin Heike Kirstein sagt: "Wenn ich meinen normalen Dienst mache, wird das nicht ausreichen für Integration." Besonders in den Regelklassen brauche es mehr Raum, mehr Ressourcen für Team-Teaching und Integrationshilfe. In ihrer Klasse hat sie gerade zwei IVK-Kinder, "das läuft nicht von allein". Sie kritisiert, dass das System zu sehr auf das Engagement einzelner Lehrkräfte setzt.
Hülya Orman hält auch mehr Raum für die Beratung der Familien für wichtig. Die meisten kennen das deutsche Schulsystem nicht und wählen dann die Schule, die ihnen vertraut ist, auch wenn das nicht unbedingt die Schulart ist, die am besten zum Kind passt. "Ich kannte nur das Gymnasium", bestätigt Katya, daher wollte sie auch dorthin. Von einer Gesamtschule hatte sie vorher noch nie etwas gehört.
Die vier Schülerinnen und Schüler können sich heute nicht mehr vorstellen, in die Ukraine zurückzukehren. Dyma will Computer-Design studieren, am liebsten In Deutschland. Yakiv plant, nach der Schule erst mal nach Island gehen. Katya würde "am liebsten in den USA studieren, Kriminologie." Sie, die anfangs gar nicht in Deutschland bleiben wollte, sagt heute: "Ich müsste in der Ukraine ja auch wieder ganz von vorne anfangen." Sie hat zwar noch Kontakt zu ihren früheren Freundinnen, aber sie ist realistisch: "Wir sind ja alle älter geworden und haben uns verändert, da ist jetzt ein großer Abstand." Und die Jüngste, Maria, hat für sich die Situation ganz klar analysiert: "Heute habe ich hier in Deutschland doch viel mehr Möglichkeiten." Aber die Frage, ob sie zurück in die Ukraine gehen, stellt sich ihnen auch gar nicht: Nach drei Jahren Krieg und Zerstörung erscheint eine Rückkehr von Tag zu Tag unvorstellbarer. Der Krieg geht unverändert weiter. Eine Perspektive ist nicht in Sicht.